Hercule Poirots Weihnachten
grauenvoller, lang gezogener Schrei, der Schrei eines Menschen in höchster Todesangst.»
Er verbarg sein Gesicht in den zitternden Händen. Lydia zog ihn beruhigend am Ärmel. Colonel Johnson fragte behutsam: «Und dann?»
«Ich glaube – wahrscheinlich waren wir sekundenlang einfach wie gelähmt», sagte Alfred mit erstickter Stimme. «Aber dann sprangen wir auf, rannten zur Tür hinaus und die Treppe zu Vaters Zimmer hinauf. Die Tür war verschlossen. Wir konnten nicht hinein. Mit vereinten Kräften mussten wir sie erst aufbrechen. Und dann, als wir ins Zimmer traten, sahen wir…»
Seine Stimme erstarb.
«Das genügt, Mr Lee», sagte Johnson schnell. «Bitte, gehen wir noch ein paar Minuten zurück, also zu dem Zeitpunkt, als Sie noch im Speisezimmer saßen. Wer war mit Ihnen dort, als der Schrei ertönte?»
«Wer? Nun, wir alle. Nein, warten Sie. Mein Bruder war bei mir, mein Bruder Harry.»
«Sonst niemand?»
«Nein.»
«Wo waren denn die anderen Herren?»
Alfred runzelte die Stirne und bemühte sich, nachzudenken. «Wo waren sie? Es scheint alles so weit zurückzuliegen. Jahre zurück. Wie war es? Ja, richtig, George war zum Telefon gegangen. Wir begannen Familienangelegenheiten zu besprechen, und Mr Farr sagte, dass er uns dabei nicht stören wollte, und empfahl sich, sehr liebenswürdig und taktvoll.»
«Und Ihr Bruder David?»
«David? War er nicht da? Nein, natürlich nicht. Ich weiß wirklich nicht, wann er aus dem Zimmer ging.»
«Sie hatten also Familienangelegenheiten zu diskutieren?», wiederholte Poirot fragend.
«J-ja, ja, gewiss.»
«Heißt das, dass Sie eine Auseinandersetzung mit einem Mitglied Ihrer Familie hatten?»
«Was wollen Sie damit sagen?» Lydias Frage kam rasch.
Poirot wandte sich ihr fast heftig zu. «Madame, Ihr Gatte sagt aus, dass Mr Farr sich entfernte, weil Familienangelegenheiten besprochen werden sollten. Es kann sich jedoch nicht um einen Familienrat gehandelt haben, nachdem sowohl Mr David als auch Mr George nicht anwesend waren. Also war es eine Auseinandersetzung zwischen nur zwei Mitgliedern der Familie, nicht wahr?»
«Mein Schwager Harry war jahrelang verreist gewesen. Es ist wohl natürlich, dass er und mein Mann sich manches zu sagen hatten.»
«Ach, ich verstehe. So war das.»
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und schlug dann die Augen nieder.
«Nun, das scheint ja klar zu sein», stellte Johnson fest. «Bemerkten Sie, ob außer Ihnen noch jemand die Treppe zum Zimmer Ihres Vaters hinauf rannte?»
«Ich – ich weiß nicht. Ich glaube schon. Wir kamen alle aus den verschiedensten Richtungen. Aber ich habe nichts klar erfasst – ich war so aufgeregt. Dieser entsetzliche Schrei…»
Colonel Johnson ging schnell zu einem anderen Thema über. «Danke, Mr Lee. Nun ist da noch ein Punkt: Wenn ich recht unterrichtet bin, besaß Ihr Vater einige sehr wertvolle Diamanten.»
Alfred sah ihn erstaunt an. «Ja, das stimmt.»
«Wo pflegte er die aufzubewahren?»
«In dem Safe in seinem Zimmer.»
«Können Sie mir die Steine beschreiben?»
«Es waren rohe Diamanten, also ungeschliffene Steine.»
«Warum bewahrte Ihr Vater sie in seinem Zimmer auf?»
«Sie waren sein Steckenpferd. Er hatte die Steine aus Südafrika mitgebracht. Nicht, um sie schleifen zu lassen, sondern einfach, um sie zu besitzen. Ein Hobby, wie ich schon sagte.»
«Ich verstehe», sagte Johnson, aber aus seinem Ton ging klar hervor, dass er gar nichts begriff. «Und waren diese Steine sehr wertvoll?»
«Mein Vater schätzte sie auf ungefähr zehntausend Pfund.»
«Also waren sie sogar ungemein wertvoll. Merkwürdige Idee, sie im Schlafzimmer aufzubewahren.»
Wieder griff Lydia in das Gespräch ein. «Mein Schwiegervater war in mancher Hinsicht ein merkwürdiger Mann, Colonel Johnson. Seine Ansichten und Ideen waren oft sehr unkonventionell. Er liebte es, diese Steine zu berühren.»
«Vielleicht erinnerten sie ihn an die Vergangenheit», warf Poirot ein.
Sie sah ihn bewundernd an. «Ja», sagte sie, «das taten sie wahrscheinlich.»
«Waren diese Diamanten versichert?», fragte Johnson.
«Ich glaube nicht.»
Johnson beugte sich vor und fragte ruhig: «Wissen Sie, Mr Lee, dass diese Steine gestohlen worden sind?»
«Was?» Alfred Lee starrte ihn an.
«Hat Ihr Vater Ihnen gegenüber ihr Verschwinden nicht erwähnt?»
«Mit keinem Wort!»
«Sie wussten also nicht, dass er Inspektor Sugden hatte kommen lassen, um ihm den Verlust zu melden?»
«Ich hatte nicht die
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