Hercule Poirots Weihnachten
kräftiger Mann gewesen zu sein», sagte Poirot.
«Nun, er war trotzdem sehr widerstandsfähig», widersprach der Arzt. «Er hat ein paar Krankheiten überstanden, die den meisten Menschen zum Verhängnis geworden wären.»
«Ich meinte es nicht in diesem Sinn. Ich wollte sagen, dass er physisch kein Riese gewesen ist.»
«Das stimmt, gewiss. Er war ziemlich zart gebaut.»
Poirot wandte sich ab und beugte sich forschend über einen umgestürzten Stuhl, einen schweren Mahagonisessel. Daneben stand ein Mahagonitisch mit den Scherben einer großen Porzellanlampe. Zwei kleinere Stühle waren ebenfalls umgeworfen, Splitter einer zerbrochenen Flasche und zweier Gläser lagen herum, ferner ein unversehrt gebliebener gläserner Briefbeschwerer, Bücher, eine zertrümmerte große japanische Vase und die Bronzestatuette eines nackten jungen Mädchens.
Poirot beugte sich über all diese Zeugen eines heftigen Kampfs, ohne jedoch irgendetwas zu berühren. Er hob erstaunt die Augenbrauen.
Colonel Johnson bemerkte das. «Fällt Ihnen etwas Besonderes auf, Poirot?»
Hercule Poirot seufzte. «Ein so schwächlicher alter Mann und doch all dies Durcheinander», murmelte er. Johnson sah ihn erstaunt an. Dann fragte er den Inspektor: «Sind Fingerabdrücke vorhanden?».
«Viele, Sir, überall im Zimmer.»
«Und am Safe?»
«Nur diejenigen des alten Herrn.»
Johnson wandte sich an den Arzt.
«Wie steht es mit Blutflecken? Wer immer ihn umgebracht hat, muss doch Blut an sich haben, oder nicht?»
«Nicht unbedingt», antwortete der Arzt zögernd. «Die Blutung erfolgte fast ausschließlich durch die Halsschlagader, und die pulsiert weniger stark als etwa eine Arterie.»
Poirot warf plötzlich ein: «Und darum ist das viele Blut verwunderlich, sehr verwunderlich.»
«Können Sie daraus irgendwelche Schlüsse ziehen?», fragte Sugden schüchtern und sehr respektvoll.
Poirot sah ihn an und schüttelte betrübt den Kopf. «Irgendetwas, Heftigkeit, übergroße Gewalt –» Er unterbrach sich und dachte lange nach, ehe er weitersprach. «Ja, das ist es: brutale Gewalt! Und dann das Blut. Es ist hier – wie soll ich mich ausdrücken? – es ist hier zu viel Blut. Blut auf den Stühlen, auf den Tischen, auf den Teppichen. Ein Blutgericht? Ein Blutopfer? Vielleicht. Dieser zerbrechliche alte Mann, so mager, so eingeschrumpft und vertrocknet und doch vor seinem Sterben so viel Blut in ihm…»
Er verstummte. Sugden, der ihn mit großen, erstaunten Augen ansah, flüsterte fast ehrfürchtig:
«Seltsam – genau das hat sie auch gesagt – die Dame.»
«Welche Dame?», fragte Poirot scharf. «Was hat sie gesagt?»
«Mrs Lee – Mrs Alfred Lee. Stand dort an der Türe und murmelte es halblaut. Ich wusste nicht, was sie damit meinte.»
«Was murmelte sie?»
«Irgendetwas, dass niemand gedacht hätte, dass der alte Herr noch so viel Blut in sich hätte.»
«Wer konnte denken, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich gehabt?», zitierte Poirot leise. «Die Worte der Lady Macbeth. Eigenartig, dass sie das sagte.»
Alfred Lee und seine Frau traten in das kleine Arbeitszimmer, wo Poirot, Sugden und der Colonel warteten. Colonel Johnson ging ihnen entgegen.
«Guten Abend, Mr Lee. Wir sind uns noch nie begegnet, aber Sie werden vermutlich wissen, dass ich Polizeichef der Grafschaft bin. Johnson ist mein Name. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr mich der Vorfall hier erschüttert.»
Alfred, dessen braune Augen an die eines traurigen Hundes erinnerten, sagte heiser: «Ich danke Ihnen. Es ist entsetzlich! Entsetzlich! Meine Frau.»
Lydias Stimme klang ruhig.
«Es war ein furchtbarer Schock für meinen Mann – für uns alle –, aber für ihn ganz besonders.»
Sie legte die Hand auf Alfreds Schulter.
«Bitte, setzen Sie sich, Mrs Lee», sagte Johnson. «Darf ich Ihnen Monsieur Hercule Poirot vorstellen?»
Poirot verbeugte sich. Seine Augen huschten interessiert zwischen den Ehegatten hin und her.
Lydia drückte Alfred sanft auf einen Stuhl nieder. «Setz dich, Alfred!»
Alfred gehorchte wortlos. «Hercule Poirot? Wer?» Er fuhr sich benommen über die Stirn.
«Colonel Johnson wird dich vieles fragen wollen, Alfred», sagte Lydia Lee beherrscht.
Der Colonel warf ihr einen bewundernden Blick zu. Er war froh, dass Mrs Alfred Lee sich als vernünftige, gefasste Frau herausstellte.
«Ja, natürlich… gewiss, natürlich…», stammelte Alfred.
Der Schock hat ihn vollkommen erledigt, dachte Johnson. Hoffentlich wird er sich
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