Hercule Poirots Weihnachten
wenn ich es weiß.»
Colonel Johnson räusperte sich – eine sozusagen amtliche Angewohnheit von ihm – und stellte seine stereotype Frage: «Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?»
«Nach dem Tee. Er hatte eben Streit mit Alfred gehabt - wegen mir. Der alte Mann hatte eine diebische Freude an dem Krach. Er liebte es, seine Umgebung zu verärgern. Meiner Ansicht nach hatte er nur darum meine Ankunft vor den anderen verborgen gehalten. Er wollte sehen, wie sie in die Luft gingen, wenn ich plötzlich hier auftauchte. Und nur darum hat er auch davon gesprochen, sein Testament zu ändern.»
Poirot hob den Kopf und murmelte:
«Ihr Vater hat also sein Testament erwähnt?»
«Ja. Vor uns allen. Und dabei hat er uns beobachtet wie eine lauernde Katze, um zu sehen, wie wir reagierten. Er rief seinen Anwalt an und bat ihn, nach Weihnachten in dieser Sache zu ihm zu kommen.»
«Welche Änderungen wollte er vornehmen lassen?»
Harry Lee grinste.
«Das hat er uns nicht gesagt, der alte Fuchs! Ich nehme an - oder sagen wir lieber: ich hoffte –, dass sie zugunsten meiner Wenigkeit ausgehen würden. Ich vermute, dass ich aus allen früheren Testamenten gestrichen worden war und jetzt wieder aufgenommen werden sollte. Ziemlich ärgerlich für die anderen. Und Pilar, die er sehr gern mochte, hätte sicher auch etwas bekommen sollen. Haben Sie sie schon gesehen? Meine spanische Nichte, ein bezauberndes Geschöpf, mit aller Wärme des Südens und mit all seiner Grausamkeit. Ich wollte, ich wäre nicht bloß ihr Onkel.»
«Ihr Vater hatte sie lieb gewonnen?»
Harry nickte. «Sie verstand es, den alten Herrn zu nehmen. Saß lange hier bei ihm. Ich wette, dass sie ganz genau wusste, was sie damit bezweckte. Nun, jetzt ist er tot. Kein Testament kann mehr zu Pilars Gunsten abgeändert werden – zu meinen auch nicht, leider!»
Er grübelte sekundenlang über etwas nach und fuhr dann in verändertem Ton fort: «Aber ich bin vom Thema abgewichen. Sie fragten mich, wann ich Vater zuletzt gesehen habe? Wie gesagt, nach dem Tee, ungefähr kurz nach sechs. Der alte Mann war sehr vergnügt, wenn auch ein wenig müde. Ich ging bald und ließ ihn mit Horbury allein. Dann habe ich ihn nicht mehr gesehen.»
«Wo waren Sie, als der Mord geschah?»
«Im Speisezimmer, mit Bruder Alfred. Wir waren mitten in einer ziemlich scharfen Auseinandersetzung, als wir den Lärm von oben hörten. Es tönte, als würden zehn Männer miteinander ringen. Und dann schrie der arme alte Vater. Ein Aufkreischen, als ob ein Schwein abgestochen würde. Dieser Schrei schien Alfred vollständig zu lähmen. Er blieb wie angewurzelt sitzen. Ich rüttelte ihn wach und rannte mit ihm die Treppe hinauf. Die Tür zu Vaters Zimmer war verschlossen. Wir mussten sie aufbrechen. Ziemlich mühsame Sache. Wie zum Teufel konnte die Tür überhaupt verschlossen sein? Es war niemand in dem Zimmer außer Vater, und ich kann mir nicht denken, dass jemand durch die Fenster entflohen ist!»
«Die Tür war von außen versperrt worden», sagte Sugden.
«Was?» Harry starrte ihn an. «Ich könnte doch schwören, dass der Schlüssel innen steckte.»
«Das haben Sie also bemerkt?», murmelte Poirot.
Harry Lee sah ihn scharf an. «Ich bemerke manches, das ist so meine Art.» Dann flogen seine Augen von einem zum andern. «Haben Sie mich sonst noch etwas zu fragen, meine Herren?»
Johnson schüttelte den Kopf.
«Danke, Mr Lee, im Augenblick nicht. Würden Sie bitte das nächste Familienmitglied hereinschicken?»
«Natürlich.» Harry verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.
«Was halten Sie von ihm, Sugden?», fragte Johnson.
Der Inspektor hob zweifelnd die Schultern und ließ sie wieder fallen.
«Er hat Angst vor irgendetwas. Ich frage mich, warum?»
Magdalene Lee hielt auf der Schwelle effektvoll inne, um sich mit der langen, schmalen Hand über das platinblonde Haar zu streichen. Sie trug ein eng anliegendes blattgrünes Samtkleid, das ihre schlanke Figur voll zur Geltung brachte. Sie sah sehr jung und ein wenig verängstigt aus.
Die drei Männer waren sekundenlang von ihrem Anblick wie gefesselt. Johnsons Augen sprachen von überraschter Bewunderung, während Sugden eher den Ausdruck eines Menschen zeigte, der gerne ungehindert mit seiner Arbeit vorwärts kommen möchte. Hercule Poirot hingegen leuchtete die Anerkennung förmlich aus dem Gesicht – wie Magdalene sofort bemerkte –, aber sie galt nicht so sehr ihrer Schönheit als
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