Hercule Poirots Weihnachten
Flüstern und drückte pure weibliche Begierde aus.
«Ich glaube, das ist alles für den Augenblick. Wir müssen Sie nicht länger belästigen, Mrs Lee.»
Sie stand auf, lächelte erst Johnson, dann Poirot zu – das Lächeln eines kleinen, dankbaren Mädchens – und ging hocherhobenen Hauptes aus dem Zimmer.
Colonel Johnson rief ihr nach: «Würden Sie bitte Ihren Schwager, Mr David Lee, hereinschicken?» Nachdem er die Tür hinter ihr zugemacht hatte, trat er an den Tisch zurück.
«So, jetzt kommen wir den Dingen schon etwas näher, meinen Sie nicht auch? Halten wir fest: George Lee hat telefoniert, als der Schrei ertönte. Seine Frau hat auch telefoniert, als der Schrei ertönte. Da stimmt doch etwas ganz und gar nicht.» Er sah Sugden fragend an. «Nun, was halten Sie davon, Sugden?»
«Ich möchte nicht abfällig von der Dame reden», sagte Sugden langsam, «aber mich dünkt, dass sie zwar von der Sorte ist, die einem Mann das Geld aus den Taschen ziehen kann, dass sie aber nicht hingehen würde und einem Mann die Gurgel durchzuschneiden vermöchte. Das liegt nicht auf ihrer Linie.»
«Das kann man nie wissen, mon vieux » , wandte Poirot leise ein.
Colonel Johnson drehte sich zu ihm um.
«Und Sie, Poirot, was denken Sie von der Sache?»
Hercule Poirot strich über die Löschblattunterlage vor sich und wischte ein winziges Stäubchen von einem Kerzenhalter.
«Ich denke, dass der Charakter des Herrn Simeon Lee selig langsam Form anzunehmen beginnt, und ich glaube, dass darin der springende Punkt des ganzen Falles liegt – im Charakter des Toten.»
Sugden sah ihn erstaunt an. «Ich verstehe nicht ganz, Mr Poirot. Was hat der Charakter des Verstorbenen mit diesem Mord zu tun?»
«Der Charakter des Opfers hat immer mit seiner Ermordung zu tun», sagte Poirot nachdenklich. «Das klare, offene Wesen Desdemonas war die direkte Ursache ihres Todes. Eine misstrauische Frau hätte Jagos Ränke durchschaut und vereitelt. Marats Hautausschlag führte zu seinem Tod im Bad. Und Mercutios zorniges Temperament führte zu seinem Ende durch eine Degenspitze.»
«Was meinen Sie damit, Poirot?»
«Ich will damit sagen, dass die besonderen Eigenarten von Simeon Lee in anderen Menschen besondere Kräfte in Bewegung brachten und dass diese Kräfte schließlich seinen Tod verursachten.»
«Also setzen Sie voraus, dass die Diamanten nichts damit zu tun hatten?»
Poirot lächelte über die unverhohlene Verblüffung, die Johnsons Gesicht widerspiegelte.
« Mon cher, auch dass Simeon Lee ungeschliffene Diamanten im Wert von zehntausend Pfund in seinem Safe aufbewahrte, gehört zu den Absonderlichkeiten seines Charakters. Ein normaler Mensch hätte das nicht getan.»
«Das ist sehr richtig, Mr Poirot», nickte Sugden heftig Zustimmung. Er schien endlich zu begreifen, worauf Poirot hinauswollte. «Sonderbar, das war er, der alte Mr Lee. Er hat diese Steine nur hier aufbewahrt, damit er sie herausnehmen und betasten konnte, weil ihm das die Erinnerung an frühere Zeiten zurückbrachte. Glauben Sie mir, nur deshalb hat er sie nie schleifen lassen.»
«Ganz richtig», rief Poirot eifrig. «Ich bewundere Ihren Scharfsinn, Inspektor.»
Sugden quittierte dieses Kompliment mit einem etwas unsicheren Blick, aber Colonel Johnson unterbrach das Gespräch.
«Da ist etwas anderes, Poirot, das mir aufgefallen ist.»
«Ich weiß, mais oui, ich weiß, was Sie meinen. Mrs George Lee hat ziemlich rückhaltlos von dieser Familienzusammenkunft geplaudert, nicht wahr? Sie schildert – ach, so naiv! –, wie böse Alfred auf seinen Vater war und dass David aussah, als wollte er den alten Herrn umbringen. Diese beiden Behauptungen können stimmen. Für uns sind sie Anlass zu weiteren Überlegungen. Warum hat Simeon Lee seine Familie zusammenrufen lassen? Warum just in dem Augenblick, da er mit seinem Anwalt telefonierte? Das kann doch kein Zufall gewesen sein. Farbleu, er wollte, dass sie dieses Gespräch hören sollten. Der arme Alte! Seit er an seinen Stuhl gefesselt ist, langweilt er sich und denkt sich immer neue Zerstreuungen für sich aus. Es amüsiert ihn, die menschliche Geldgier zu kitzeln und alle mit ihr verbundenen Leidenschaften und Neidgefühle wachzurufen. Aber daraus ergibt sich eine neue Perspektive. Wenn ihm daran lag, in seinen Kindern Neid und Gier zu wecken, dann hat er bestimmt keines von ihnen verschont und also ganz sicher auch auf Mr George seine Pfeile abgeschossen. Darüber schweigt sich seine Frau
Weitere Kostenlose Bücher