Hercule Poirots Weihnachten
Schrei.» Er verkrampfte seine Hände. «Wie eine Seele im Fegefeuer. Gott, es war entsetzlich.»
Johnson fragte: «Waren Sie allein im Musikzimmer?»
«Wie bitte? Nein, meine Frau, Hilda, war bei mir. Sie war aus dem Wohnzimmer gekommen. Wir gingen mit den anderen die Treppe hinauf.» Nervös und fröstelnd fügte er noch bei: «Und was wir dort gesehen haben, muss ich Ihnen wohl nicht wiederholen.»
«Nein, gewiss nicht, durchaus nicht notwendig», beeilte sich Johnson zu versichern. «Ich danke Ihnen, Mr Lee, das ist alles. Eine Frage noch: Können Sie sich vorstellen, wer Ihrem Vater nach dem Leben hätte trachten können?»
«Sicher eine ganze Reihe von Leuten», antwortete David kalt, «aber jemand Bestimmtes wüsste ich nicht.»
Dann ging er rasch aus dem Zimmer und zog die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss.
Colonel Johnson hatte kaum Zeit für sein obligates Räuspern gefunden, als die Tür wieder aufging und Hilda Lee eintrat.
Hercule Poirot betrachtete sie interessiert. Er dachte bei sich, dass die Brüder Lee in der Wahl ihrer Frauen einen eigenartig verschiedenen Geschmack bekundet hatten. Die wache Intelligenz und windhundartige Grazie Lydias, die berechnend-verführerische Anmut Magdalenes, und nun die beruhigende, sichere Kraft Hildas. Sie war jünger, als ihre unvorteilhafte Frisur und Kleidung vermuten ließen, das erkannte er sofort. Ihr Haar wies keinen grauen Schimmer auf, und die klaren Haselnussaugen leuchteten wie freundliche, warme Sterne aus dem rundlichen Gesicht. Sie war eine charmante, anziehende Frau.
Colonel Johnson sprach in den nettesten Tönen.
«… ein Schlag für Sie alle gewesen sein», sagte er eben. «Ihr Gatte hat mir erzählt, Mrs Lee, dass dies Ihr erster Besuch in Gorston Hall ist.» Sie nickte.
«Haben Sie Ihren Schwiegervater früher schon kennen gelernt?»
«Nein», antwortete sie mit ihrer ruhigen, angenehmen Stimme, «wir haben geheiratet, bald nachdem David sein Vaterhaus verlassen hatte. Er wollte nichts mehr mit seiner Familie zu tun haben, und bis jetzt haben wir auch niemanden von ihnen gesehen.»
«Und wie kam es nun zu Ihrem gegenwärtigen Besuch?»
«Mein Schwiegervater schrieb an David, er fühle sein Alter und möchte alle seine Kinder zu Weihnachten um sich versammelt sehen.»
«Und Ihr Mann kam dieser Bitte gerne nach?»
«Dass er die Einladung annahm, ist leider meine Schuld! Ich – ich habe die Situation gründlich missverstanden!»
«Was meinen Sie damit, Mrs Lee?», warf hier Poirot ein. «Bitte, erklären Sie sich deutlicher, es könnte für uns von großer Wichtigkeit sein.»
Sie wandte sich ihm sofort zu.
«Ich hatte zu jenem Zeitpunkt meinen Schwiegervater noch nie gesehen, und deshalb konnte ich nicht wissen, was er mit dieser Einladung bezweckte. Ich stellte mir vor, dass ein alter Mann tatsächlich Versöhnung mit seinen Kindern suchte.»
«Und welches war sein wirklicher Beweggrund, Madame?»
Hilda zögerte eine Sekunde und sagte dann langsam:
«Jetzt steht für mich fest – absolut und ohne Zweifel –, dass mein Schwiegervater nicht Frieden stiften, sondern Unfrieden schüren wollte. Es machte ihm Spaß, an die niedrigsten Instinkte des Menschen zu appellieren. Er war erfüllt von einer wie soll ich sagen? – von einer teuflischen Freude am Bösen, und er wollte, dass sich alle Familienmitglieder untereinander verfeinden sollten.»
«Und ist ihm das gelungen?», fragte Johnson scharf.
«O ja, das ist ihm gelungen.»
«Man hat uns erzählt, Madame», sagte Poirot, «dass es heute Nachmittag zu einer ziemlich heftigen Auseinandersetzung kam. Würden Sie uns die so wahrheitsgetreu wie nur möglich schildern?»
Sie dachte eine Weile nach.
«Als wir sein Zimmer betraten, war mein Schwiegervater am Telefon und sprach mit einem Anwalt. Er bat diesen Mr Charlton – oder lautet der Name anders? –, er möchte zu ihm kommen, da er ein neues Testament aufsetzen wollte. Das alte sei nicht mehr zweckentsprechend.»
«Denken Sie gründlich nach, Madame, und sagen Sie uns, ob Sie glauben, dass Ihr Schwiegervater wollte, dass Sie alle dieses Gespräch hören sollten, oder ob Sie es in diesem Augenblick nur zufällig mitbekamen.»
«Ich bin fast sicher, dass er wollte, wir sollten es hören.»
«In der Absicht, Zweifel zwischen Ihnen zu säen?»
«Ja.»
«So dass er vielleicht gar nicht beabsichtigte, sein Testament zu ändern?»
Darüber dachte sie sekundenlang nach.
«Doch, ich glaube, diese Bemerkung war
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