Hercule Poirots Weihnachten
schnitt Colonel Johnson mögliche weitere Auseinandersetzungen ab. «Sie werden, bitte, dieses Haus vorläufig nicht verlassen.»
Stephen Farr nickte. Er stand auf und ging mit weitausholenden Schritten aus dem Zimmer.
Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sagte Johnson: «Da geht X, der große Unbekannte. Seine Erklärungen klingen zwar durchaus glaubwürdig, aber er ist doch ein schwarzes Schaf. Er könnte diese Diamanten gestohlen haben, und er könnte mit irgendeiner erfundenen Geschichte hier aufgetaucht sein, um sich Zutritt zu dem Haus zu verschaffen. Nehmen Sie ihm die Fingerabdrücke, Sugden, und forschen Sie nach, ob er bekannt ist.»
«Ich habe Stephen Farrs Fingerabdrücke bereits», sagte der Inspektor mit einem kleinen Lächeln.
«Sehr gut. Sie übersehen wirklich nichts. Ich überlasse Ihnen, die gemachten Aussagen zu überprüfen.»
Sugden zählte an den Fingern auf. «Die erwähnten Telefongespräche und ihre genaue Zeit feststellen. Horbury kontrollieren, wann er das Haus verließ und wer ihn fortgehen sah. Feststellen, wer hier ein und aus ging. Dienerschaft verhören. Finanzlage der einzelnen Familienmitglieder auskundschaften. Den Anwalt aufsuchen und bezüglich des Testaments befragen. Das Haus nach der Mordwaffe, blutbefleckten Kleidungsstücken und natürlich nach den eventuell versteckten Diamanten durchsuchen.»
Sugden sah plötzlich verärgert aus. «Dieses Haus wird übrigens gar nicht leicht zu durchsuchen sein, Sir. Noch nie habe ich so viel Zierrat und Krimskrams beisammen gesehen wie hier.»
«Ja, Verstecke gibt es hier sicherlich eine Menge», stimmte Poirot ihm bei.
«Und Sie haben also keine Anregungen zu machen, Poirot?», fragte Johnson enttäuscht. Er sah aus wie ein Mann, dessen Hund soeben bei einem seiner Kunststücke versagt hat.
«Wenn Sie gestatten, möchte ich eine eigene Linie einschlagen.»
«Aber natürlich», sagte Johnson, und fast gleichzeitig fragte Sugden ein wenig misstrauisch:
«Was für eine Linie, Mr Poirot?»
«Ich möchte noch ein paarmal mit den Mitgliedern der Familie Lee plaudern.»
«Sie noch einmal gründlich verhören?», fragte Johnson. «Nein, nein, nicht verhören – mit ihnen plaudern.»
«Wozu?» Sugden schien nicht zu begreifen.
Hercule Poirot machte eine elegante, ausdrucksvolle Handbewegung.
«In harmlosen Gesprächen vernimmt man gar manches. Wenn ein Mensch viel spricht, kann er die Wahrheit nicht verbergen.»
«Glauben Sie denn, dass jemand von ihnen lügt?»
Poirot seufzte.
« Mon cher, jedermann lügt. Es ist aufschlussreich, die harmlosen Lügen von den wichtigen zu trennen.»
Aus Colonel Johnson brach es plötzlich hervor:
«Es ist einfach unglaublich! Es ist ein ganz besonders grausamer und brutaler Mord geschehen – und wen können wir als Täter verdächtigen? Alfred Lee und seine Frau – beide reizende, gepflegte, ruhige Menschen. George Lee, der Parlamentsmitglied und ein Muster an Ehrbarkeit ist. Seine Frau? Eine belanglose Modepuppe. David Lee scheint ein weichherziger Mensch zu sein, und wir wissen von seinem Bruder Harry, dass er den Anblick von Blut nicht erträgt. Seine Frau ist eine nette, vernünftige Person – weder aufregend noch auffallend. Bleiben die spanische Nichte und der Mann aus Südafrika. Spanische Frauen haben wohl ein ungezügeltes Temperament, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses bezaubernde Geschöpf dem alten Mann kaltblütig die Kehle durchgeschnitten haben soll. Umso mehr, als sie alles Interesse daran gehabt haben dürfte, ihn jedenfalls bis nach der Abfassung eines neuen Testaments am Leben zu wissen. Stephen Farr – das wäre möglich –, er könnte ein Gauner sein. Vielleicht hat der alte Mann den Verlust der Steine entdeckt, und Farr schnitt ihm die Kehle durch, um ihn zum Schweigen zu bringen. Das wäre durchaus möglich, denn der Plattenspieler ist kein überzeugendes Alibi.»
Poirot schüttelte den Kopf.
«Lieber Freund, vergleichen Sie doch mal das Äußere von Monsieur Farr und Simeon Lee. Wenn Farr entschlossen gewesen wäre, den alten Herrn umzubringen, dann hätte er das binnen einer Minute tun können, ohne dass Mr Lee sich dagegen groß zur Wehr hätte setzen können. Wer sollte glauben, dass der gebrechliche, alte Mann und dieses Prachtexemplar körperlicher Kraft miteinander rangen und Stühle umwarfen, Tische zu Fall brachten und Porzellan zertrümmerten? Diese Vorstellung ist ganz einfach fantastisch!»
Colonel Johnsons Pupillen
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