Hercule Poirots Weihnachten
einem Testament?»
«Testament? Nein, ich glaube nicht.»
«Und was geschah dann?»
«Dann gingen alle aus dem Zimmer, außer Hilda, die Dicke, Davids Frau, die blieb zurück. David sah komisch aus. Er zitterte und war so weiß, dass ich dachte, er werde sich erbrechen müssen.»
«Und dann?»
«Später war ich mit Stephen zusammen. Wir legten Platten auf und tanzten.»
«Stephen Farr?»
«Ja. Er kommt aus Südafrika und ist der Sohn von Großvaters Freund. Stephen ist auch sehr gut aussehend, groß und braun, und er hat nette Augen.»
«Wo waren Sie, als der Mord geschah?»
«Wo ich war? Ich war mit Lydia ins Wohnzimmer gegangen. Dann ging ich in mein Zimmer, um mich zu pudern. Ich wollte wieder mit Stephen tanzen. Aber da hörte ich weit entfernt einen Schrei, alles rannte, und ich lief hinterdrein. Man versuchte Großvaters Zimmertür einzuschlagen. Harry hat es dann schließlich mit Stephen fertig gebracht. Sie sind beide große, starke Männer. Und dann – krach! – gab die Tür nach, und wir sahen alle ins Zimmer. Was für ein Anblick! Alles zerschmettert und über den Haufen geworfen, und Großvater in einer Blutlache. Seine Gurgel war durchgeschnitten – so» – sie beschrieb mit einer dramatischen Gebärde an ihrem eigenen Hals, was sie gesehen hatte – «bis unter sein Ohr!»
Sie unterbrach sich, und es war offensichtlich, dass sie ihre eigene Schilderung genossen hatte.
Johnson fragte: «Ist Ihnen beim Anblick des Bluts nicht übel geworden?»
«Nein, warum? Es fließt gewöhnlich Blut, wenn jemand umgebracht wird. Da war wirklich viel Blut – überall.»
«Hat jemand etwas gesagt in diesem Augenblick?», fragte Poirot.
«David sagte etwas so Komisches – was war es nur? Ach ja. Die Mühlen Gottes –» Sie wiederholte jedes Wort mit pathetischem Nachdruck. «Die Mühlen Gottes. – Was heißt das überhaupt? In Mühlen wird doch Mehl gemahlen, oder nicht?»
«Sie können jetzt gehen, Miss Estravados», schnitt Colonel Johnson weitere Fragen ab.
Pilar erhob sich sofort. Sie bedachte jeden der drei Männer mit einem bezaubernden Lächeln.
«Gut, dann gehe ich», sagte sie folgsam und verschwand.
«Die Mühlen Gottes mahlen langsam, aber sehr fein», murmelte Johnson. «Und das hat David Lee gesagt!»
Colonel Johnson sah erst auf, als sich die Tür wieder öffnete. Im ersten Moment glaubte er, dass Harry Lee zurückgekommen sei; doch als Stephen Farr näher trat, bemerkte er seinen Irrtum.
Stephen Farr setzte sich. Seine kühlen, intelligenten Blicke schweiften von einem der drei Männer zum anderen. Dann sagte er: «Ich werde Ihnen leider nicht viel wertvolle Auskünfte geben können, aber bitte fragen Sie mich, was Sie wollen. Vielleicht sollte ich Ihnen zuerst erklären, wer ich bin. Mein Vater, Ebenezer Farr, war Simeon Lees Geschäftspartner in Südafrika, doch diese Zusammenarbeit liegt nun schon vierzig Jahre zurück. Mein Vater erzählte mir viel von Simeon Lee - eine wie große Persönlichkeit er gewesen sei und was sie beide gemeinsam erreichten und erlebten. Mein Vater hatte mir eingeschärft, den alten Lee unbedingt zu besuchen, wenn ich einmal nach England kommen sollte. ›Wenn zwei Männer so vieles zusammen erlebt haben wie Simeon Lee und ich, dann verlieren sie sich auch nach Jahren nie aus den Augen‹, sagte mein Vater immer. Nun, er starb vor zwei Jahren, und als ich jetzt zum ersten Mal nach England kam, wollte ich Vaters Rat befolgen und Mr Lee aufsuchen.» Er lächelte, als er fortfuhr. «Ich war richtig nervös, als ich hier ankam, aber das war ganz überflüssig. Mr Lee empfing mich sehr herzlich und bestand darauf, dass ich Weihnachten mit ihm und seiner Familie verbringen solle.» Seltsam scheu und verlegen fügte er noch bei: «Es waren überhaupt alle sehr nett zu mir – Mr und Mrs Alfred Lee hätten nicht zuvorkommender sein können. Es tut mir unendlich Leid für sie, dass dies alles geschehen ist.»
«Seit wann sind Sie hier, Mr Farr?»
«Seit gestern.»
«Haben Sie den alten Mr Lee heute gesehen?»
«Ja, heute früh plauderten wir zusammen. Er war bei guter Laune und wollte tausend Sachen von allen möglichen Leuten und Dingen wissen.»
«Und seither haben Sie ihn nicht mehr gesehen?»
«Nein.»
«Erwähnte er die ungeschliffenen Diamanten, die er in seinem Safe aufbewahrte?»
«Nein.» Ehe noch jemand etwas sagen konnte, fragte er: «Soll damit gesagt sein, dass hier ein Raubmord vorliegt?»
«Das wissen wir noch nicht», sagte
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