Hercule Poirots Weihnachten
Darüber hatte er mit seinem Vater einen Wortwechsel – das war aber auch alles. Der alte Herr warf ihm keineswegs vor, die Diamanten genommen zu haben, und ich bin überzeugt, dass Mr Alfred niemals so etwas getan hätte.»
Poirot fragte sehr schnell:
«Dieser Streit fand statt, nachdem Mr Lee den Verlust der Diamanten entdeckt hatte, nicht wahr?»
«Ja, Sir.»
Poirot beugte sich vor.
«Ich glaubte, Horbury, dass Sie keine Ahnung vom Verschwinden der Diamanten hatten, dass Sie erst jetzt, durch uns, davon gehört hatten. Wie also können Sie wissen, dass Mr Lee den Diebstahl entdeckte, bevor er mit seinem Sohn sprach?»
Horbury wurde tiefrot.
«Zwecklos, zu lügen», sagte Sugden. «Heraus damit! Wann haben Sie vom Verschwinden der Steine erfahren?»
«Ich hörte ihn mit jemandem telefonieren», antwortete Horbury dumpf. «Ich war vor der Tür und konnte nur ein, zwei Worte deutlich verstehen.»
«Und was genau haben Sie verstanden?», fragte Poirot übertrieben freundlich.
«Ich hörte die Worte ›Raub‹ und ›Diamanten‹ und dass er sagte: ›Ich weiß nicht, wen ich verdächtigen soll‹ – und dann etwas von heute Abend um acht Uhr.»
Inspektor Sugden nickte.
«Er hatte mit mir gesprochen, mein Bester. Ungefähr um zehn Minuten nach fünf, stimmt’s?»
«Jawohl, Sir.»
«Und als Sie nachher sein Zimmer betraten, war Mr Lee da sehr aufgeregt?»
«Nicht sehr. Er sah eher bekümmert aus.»
«So bekümmert, dass Ihnen ein wenig mulmig zumute wurde, wie?»
«Hören Sie, Mr Sugden, so dürfen Sie mir nicht kommen. Ich habe diese Diamanten nie auch nur angerührt, und Sie können mir nicht das Gegenteil beweisen. Ich bin kein Dieb!»
Inspektor Sugden antwortete ungerührt:
«Das werden wir ja sehen.» Er sah den Colonel fragend an, nahm dessen Nicken wahr und fuhr fort: «Das ist alles, Horbury. Ich brauche Sie heute Abend nicht mehr.»
Horbury verschwand erleichtert.
«Das war fabelhaft, Mr Poirot», sagte Sugden bewundernd. «So glatt habe ich noch nie jemanden in eine Falle gehen sehen. Ob er ein Dieb ist oder nicht – jedenfalls ist er ein erstklassiger Lügner.»
«Kein sehr einnehmender Mensch», stellte Poirot fest.
«Ein ekelhafter Kerl», stimmte Johnson zu. «Die Frage ist jetzt: Was können wir mit seiner Aussage anfangen?»
Sugden fasste die Sachlage kurz zusammen.
«Meiner Ansicht nach gibt es drei Möglichkeiten, Sir. Erstens: Horbury ist ein Dieb und ein Mörder. Zweitens: Horbury ist wohl ein Dieb, aber kein Mörder. Drittens: Horbury ist unschuldig. Zu Punkt eins: Er hörte das Telefongespräch und wusste, dass der Diebstahl entdeckt worden war. Aus dem Verhalten des alten Herrn glaubte er schließen zu können, dass er verdächtigt wurde. Fasste rasch einen Entschluss. Ging um acht Uhr ostentativ aus und besorgte sich ein Alibi. Einfache Sache, aus einem Kino wegzuschleichen und unbemerkt hierher zurückzukommen. Allerdings muss er des Mädchens ganz sicher sein, dass sie ihn nicht verrät. Ich werde morgen ja sehen, was ich aus ihr herausbekomme.»
«Und wie sollte er ins Haus gekommen sein?», fragte Poirot.
«Das ist schon schwieriger», gab Sugden zu. «Aber auch das hätte sich bewerkstelligen lassen. Wenn ihm zum Beispiel eine der Angestellten die Seitentüre aufschloss.»
Poirot hob zweifelnd die Augenbrauen.
«Damit hätte er sein Leben gleich zwei Frauen in die Hand gegeben? Eine Frau bedeutet schon ein großes Risiko, aber zwei - eh bien, meiner Meinung nach würde das an Selbstmord grenzen!»
«Gewisse Verbrecher glauben eben, ihnen könne gar nichts passieren», sagte Sugden. «Zu Punkt zwei: Horbury erwischte diese Diamanten, brachte sie heute Abend aus dem Haus und übergab sie einem Komplizen. Das wäre an sich einfach und möglich. Aber in diesem Fall müssen wir annehmen, dass jemand anders den alten Herrn heute Abend umbrachte, jemand, der von dem Diamantendiebstahl keine Ahnung hatte. Das ist ebenfalls möglich, aber reichlich unwahrscheinlich. Punkt drei: Horbury ist unschuldig. Irgendjemand anders stahl die Diamanten und ermordete Mr Lee. Das sind die drei Möglichkeiten. Welche den Tatsachen entspricht, werden wir jetzt herausfinden müssen.»
Colonel Johnson gähnte, sah wieder auf seine Uhr und stand auf.
«Nun, ich glaube, jetzt wollen wir schlafen gehen. Sehen wir uns noch vorher den Safe an. Es wäre verrückt, wenn diese verdammten Steine die ganze Zeit friedlich dort dringelegen hätten.»
Aber die verdammten Diamanten lagen nicht
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