Hercule Poirots Weihnachten
dass wir das Zimmer betreten hatten. Erst sah sie sich schnell um, ob niemand sie dabei beobachtete, und dann stürzte sie sich darauf. Aber dieser Inspektor hatte es gesehen, glücklicherweise, möchte ich sagen, und zwang sie, das Ding herauszugeben.»
«Was hatte sie denn aufgehoben, wissen Sie das, Madame?»
«Nein, ich stand nicht nahe genug, um es zu sehen.» Das klang ehrlich bedauernd. «Irgendetwas sehr Kleines.»
Poirot runzelte die Stirn. «Das ist interessant», murmelte er.
«Ja, und deshalb fand ich, dass man Ihnen diese Sache mitteilen sollte», sagte Magdalene schnell. «Schließlich wissen wir überhaupt nichts von Pilars Erziehung und von dem Leben, das sie bis dahin geführt hat. Alfred ist immer so vertrauensvoll, und der lieben Lydia ist so was gleichgültig.» Dann schien ihr etwas einzufallen. «Ich sollte Lydia wohl fragen, ob ich nicht etwas helfen kann. Es sind sicher viele Briefe zu schreiben.»
Sie verabschiedete sich mit einem befriedigten Lächeln.
Poirot blieb gedankenverloren auf der Terrasse stehen.
Dort traf ihn Inspektor Sugden, der düsterer Stimmung zu sein schien.
«Guten Morgen, Mr Poirot. ›Fröhliche Weihnacht‹ scheint hier nicht der richtige Gruß zu sein, nicht wahr?»
« Mon cher collègue, fröhlich sehen Sie allerdings nicht gerade aus. Haben Sie gute Fortschritte gemacht?»
«Ich habe verschiedene Punkte klargestellt. Horburys Alibi ist wasserdicht. Der Platzanweiser des Kinos sah ihn mit dem Mädchen hineingehen und am Schluss des Films wieder herauskommen, und er ist ziemlich sicher, dass Horbury das Kino während der Vorstellung nie verließ. Das Mädchen schwört, dass er immer neben ihr gesessen habe.»
«Nun, dann ist zu diesem Punkt nicht mehr viel zu sagen», stellte Poirot nachdenklich fest.
Doch der zynische Sugden sagte:
«Bei jungen Mädchen kann man nie wissen, Sir. Lügen sich für einen Mann ins tiefste Fegefeuer.»
«Das spricht für sie», lächelte Poirot.
«Eine ausländische Art, die Dinge zu betrachten», brummte Sugden. «Und eine, die den Zielen der Gerechtigkeit zuwiderläuft.»
«Gerechtigkeit ist eine seltsame Sache», sagte Hercule Poirot. «Haben Sie jemals darüber nachgedacht?»
Sugden sah ihn groß an.
«Sie sind ein komischer Mensch, Mr Poirot.»
«Gar nicht. Ich folge nur einem logischen Gedankengang. Aber wir wollen uns auf keine Diskussion einlassen, nicht wahr? Ihrer Ansicht nach hat also das Fräulein vom Milchgeschäft nicht die Wahrheit gesagt?»
Sugden schüttelte den Kopf.
«Nein, so ist es nicht. Ich glaube sogar, dass sie nicht gelogen hat. Sie ist ein harmloses Geschöpf, und ich hätte es bestimmt sofort gemerkt, wenn sie geflunkert hätte.»
«Sie haben große Erfahrung.»
«Jawohl, Mr Poirot. Nachdem man sein Leben lang Aussagen aufgenommen hat, weiß man, wann jemand lügt und wann nicht. Nein, ich bin überzeugt, dass das Mädchen die Wahrheit sagte, und daraus ergibt sich also, dass Horbury den alten Mann nicht umgebracht hat und dass wir den Mörder im Familienkreis zu suchen haben.» Er holte tief Atem. «Jemand von ihnen hat es getan, Mr Poirot. Aber wer?»
«Haben Sie keine neuen Anhaltspunkte?»
«Doch. Mit den Telefongesprächen hatte ich sogar ziemlich Glück. Mr George Lee ließ sich um zwei Minuten vor neun mit Westeringham verbinden. Das Gespräch dauerte sechs Minuten.»
«Aha!»
«Sehr richtig! Ferner wurde kein anderes Gespräch angemeldet – weder nach Westeringham noch anderswohin.»
«Interessant», sagte Poirot anerkennend. «Mr George Lee gab an, dass er eben fertig war mit seinem Telefonat, als er den Lärm von oben hörte; aber er muss also mindestens zehn Minuten vorher damit fertig gewesen sein. Wo war er während dieser zehn Minuten? Mrs George Lee behauptet, ebenfalls telefoniert zu haben – in Wahrheit wurde kein zweiter Anruf vermittelt. Wo war sie also?»
«Sie haben eben mit ihr gesprochen, Mr Poirot.» Sugdens Feststellung enthielt eine Frage.
Doch Poirot antwortete: «Sie irren sich.»
«Wie bitte?»
«Ich habe nicht mit ihr gesprochen – sie hat mit mir gesprochen.»
Erst wollte Sugden diese feine Unterscheidung ungeduldig beiseite schieben, aber plötzlich begriff er ihre Bedeutung.
«Ach so? Was hatte sie Ihnen zu erzählen?»
«Sie wollte Verschiedenes festgehalten wissen: die unenglische Art des Mordes an Mr Lee; die möglicherweise recht zweifelhafte Abkunft väterlicherseits von Miss Estravados; die Tatsache, dass Miss Estravados etwas vom
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