Hercule Poirots Weihnachten
Madame. Aber so wenige Engländerinnen verstehen sich auf la toilette. Das Kleid, das Sie am ersten Abend trugen, mit diesem extravaganten, aber einfachen Muster, stand Ihnen überaus gut.»
Lydia fragte ungeduldig: «Worüber wollten Sie mit mir sprechen, Mr Poirot?»
Nun wurde auch Poirot ernst.
«Ihr Gatte, Madame, hat mich gebeten, diesen Fall zu untersuchen. Er will, dass ich hier bleibe, in Ihrem Hause wohne und mein Äußerstes tue, um diesen Mord aufzuklären.»
«Ja, und?»
«Ich möchte eine Einladung nicht annehmen, ehe nicht die Dame des Hauses ihr Einverständnis dazu gegeben hat.»
«Selbstverständlich bin ich mit dem Wunsch meines Mannes einverstanden», sagte sie kühl.
«Gewiss, Madame, aber ich brauche mehr als das. Wollen Sie, dass ich herkomme?»
«Gewiss, warum nicht?»
«Ich will mich klarer ausdrücken. Wünschen Sie, dass die Wahrheit an den Tag kommt?»
«Natürlich.»
Poirot seufzte.
«Müssen Sie mir so konventionell antworten?»
«Ich bin eine eher konventionelle Natur.» Sie nagte an ihrer Unterlippe. Erst schien sie zu zögern, aber dann sagte sie: «Vielleicht ist Offenheit wirklich das Beste. Ich verstehe Ihre Situation sehr gut, und sie ist keineswegs angenehm. Mein Schwiegervater ist grausam ermordet worden, und sofern man nicht den Hauptverdächtigen – Horbury – dieses Mordes überführen kann – und es hat den Anschein, dass dies nicht der Fall sein wird –, dann muss jemand von unserer Familie der Täter sein. Diesen Jemand der Gerechtigkeit auszuliefern heißt also Schande über unsere Familie zu bringen. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich sagen, dass ich das allerdings nicht wünsche.»
«Sie würden also den Mörder lieber ungestraft entwischen lassen?»
«Wahrscheinlich laufen viele unbestrafte Mörder auf der Welt herum.»
«Gewiss, da haben Sie Recht.»
«Würde da einer mehr eine Rolle spielen?»
Poirot sah sie nachdenklich an.
«Und die anderen Familienmitglieder? Die Unschuldigen?»
Sie horchte auf. «Ja, was ist mit ihnen?»
«Wenn Ihre Hoffnungen sich erfüllen würden, käme die Wahrheit nie an den Tag. Alle stünden gleicherweise unter dem Schatten des Verdachts, der Zweifel…»
«Daran habe ich nicht gedacht», murmelte sie unsicher.
«Niemand würde je erfahren, wer der Schuldige war.» Leise fügte er bei: «Es sei denn, dass Sie ihn bereits kennen.»
«Sie haben kein Recht, so was zu sagen!», schrie sie auf. «Es ist nicht wahr! Ach! Wenn es doch irgendein Fremder wäre, der nicht zur Familie gehörte!»
«Oder beides zusammen.»
«Was meinen Sie damit?», fragte sie verblüfft.
«Es könnte ein Familienmitglied und trotzdem ein Fremder sein. Verstehen Sie nicht? Nun, das ist so eine Idee, die Hercule Poirots Gehirn entsprungen ist.» Er sah sie ernst an. «Madame, was soll ich also Ihrem Gatten antworten?»
Lydia hob die Hände und ließ sie mit einer müden, hilflosen Gebärde wieder fallen.
«Sie müssen natürlich annehmen.»
Pilar stand mitten im Musikzimmer. Sie hielt sich sehr gerade, und ihre Augen huschten von einer Seite zur anderen wie die eines in die Enge getriebenen Tiers.
«Ich will fort von hier.»
«Das wollen nicht nur Sie», sagte Stephen Farr freundlich. «Aber man wird uns nicht fortlassen, mein Kind.»
«Die Polizei? Es ist gar nicht angenehm, mit der Polizei zu tun zu haben. Anständigen Menschen sollte das nicht passieren.»
«Wie zum Beispiel Ihnen, nicht wahr?», lächelte Farr.
«Nein, ich meine Lydia und Alfred, David, George und Hilda und… doch, auch Magdalene.»
Stephen zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte eine Weile, ohne etwas zu sagen. Doch dann fragte er: «Eine Ausnahme? Weshalb?»
«Wieso, bitte?»
«Warum zählen Sie Bruder Harry nicht auf?»
Pilar lachte und zeigte dabei ihre schönen, ebenmäßigen Zähne.
«Oh, Harry ist etwas anderes! Ich glaube, der ist es gewohnt, mit der Polizei in Konflikt zu geraten.»
«Vielleicht haben Sie Recht. Jedenfalls fällt er zu sehr aus dem Rahmen. Mögen Sie Ihre englischen Verwandten, Pilar?»
Pilar musste sich die Antwort erst überlegen.
«Sie sind nett – alle sind sehr nett», sagte sie zögernd. «Aber sie lachen nie, sie sind nicht fröhlich.»
«Meine Liebe, in diesem Haus ist eben ein Mord geschehen.»
«J-ja-a», murmelte Pilar.
«Ein Mord», fuhr Stephen belehrend fort, «ist denn doch nichts ganz so Alltägliches, wie Ihre Nonchalance auszudrücken scheint. Mag man in Spanien darüber denken, wie man
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