Hercule Poirots Weihnachten
will - in England nimmt man Morde verteufelt ernst.»
«Sie lachen mich aus!»
«Bestimmt nicht! Mir ist gar nicht lächerlich zumute.»
Pilar betrachtete sein gebräuntes Gesicht.
«Sie möchten auch weg von hier, nicht wahr? Und der hübsche, große Polizist lässt Sie nicht gehen.»
«Ich habe ihn nicht darum gebeten, aber wahrscheinlich würde er es mir verbieten. Man muss jetzt jeden Schritt überlegen und sehr vorsichtig sein.»
«Ja, und das ist so mühsam», stellte Pilar fest.
«Es ist mehr als nur mühsam, meine Liebe. Und dann schnüffelt auch noch dieser Ausländer überall herum. Ich halte ihn zwar nicht für besonders gescheit, aber er macht mich nervös.»
Pilar runzelte plötzlich die Stirn.
«Mein Großvater war sehr, sehr reich, nicht wahr? Wer bekommt jetzt das viele Geld? Alfred und die anderen?»
«Das hängt von seinem Testament ab.»
«Er könnte mir auch etwas hinterlassen haben», überlegte Pilar, «aber ich halte das nicht für wahrscheinlich.»
«Machen Sie sich keine Sorgen», tröstete Stephen sie fast liebevoll. «Sie gehören zur Familie. Man wird sich um Sie kümmern müssen.»
Mit einem Seufzer sagte Pilar: «Ich gehöre hierher. Komisch ist das. Und dann ist es doch wieder nicht komisch.»
«Ja, für Sie ist es bestimmt nicht nur lustig.»
Wieder seufzte Pilar tief auf. Dann fragte sie:
«Wollen wir Platten auflegen und tanzen?»
Stephen sah sie zweifelnd an.
«Das würde sich nicht gut ausnehmen. In einem Trauerhaus tanzt man nicht.»
Pilars große Augen wurden noch größer.
«Aber ich bin gar nicht traurig! Ich kannte meinen Großvater ja kaum, obwohl ich ihn gern hatte. Ich will nicht weinen und unglücklich sein, weil er jetzt tot ist. Etwas vorzuheucheln ist so dumm!»
«Sie sind ein Schatz!», sagte Stephen Farr begeistert.
«Wenn wir den Plattenspieler ganz leise stellen», fuhr sie schmeichelnd fort, «dann würde es keinen großen Lärm machen, und niemand könnte es hören.»
«Also, kommen Sie, Sie Verführerin!»
Sie lachte vergnügt, rannte aus dem Zimmer und zum Tanzsaal am anderen Ende des Hauses. Doch als sie den Seitenkorridor erreichte, der zur Gartentür führte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Stephen, der ihr folgte, blieb ebenfalls stehen.
Hercule Poirot hatte ein Bild von der Wand genommen und betrachtete es eingehend beim hellen Tageslicht, das durch die Fenstertür hereinflutete. Er blickte auf, sah die beiden und lächelte ihnen zu.
«Sie kommen wie gerufen! Ich studiere etwas sehr Wichtiges: das Gesicht von Simeon Lee als junger Mann.»
«Ach? Ist das mein Großvater?»
Sie sah das Bild lange an. Dann sagte sie verwundert:
«So verändert – ganz verändert… Jetzt war er so alt, so verrunzelt. Hier sieht er aus wie Harry – wie Harry vor etwa zehn Jahren ausgesehen haben dürfte.»
Hercule Poirot nickte.
«Jawohl, Mademoiselle. Harry Lee gleicht seinem Vater am meisten. Und hier», er führte sie ein paar Schritte die Galerie entlang, «hier ist Ihre Großmutter. Ein längliches, sanftes Gesicht – sehr blondes Haar, milde blaue Augen.»
«Wie David!», rief Pilar.
«Auch Alfred sieht ihr ähnlich», bemerkte Stephen.
«Vererbung ist eine interessante Sache», sagte Poirot. «Mr Lee und seine Frau waren grundverschiedene Typen. Im Großen und Ganzen schlugen alle Kinder dieser Ehe der Mutter nach. Sehen Sie hier, Mademoiselle.»
Er zeigte auf das Porträt eines ungefähr neunzehnjährigen Mädchens mit goldschimmerndem Haar und lachenden großen blauen Augen. Die Züge glichen denen von Simeon Lees verstorbener Frau, aber es war eine heitere Lebhaftigkeit in ihnen, die die der stillen Dulderin wohl nie gehabt hatten.
«Oh!», stieß Pilar hervor. Ihre Wangen erröteten. Sie griff nach einer langen Goldkette, die sie um den Hals trug, zog ein Medaillon hervor und zeigte es Poirot. Dasselbe lachende Jungmädchengesicht sah ihm daraus entgegen.
«Meine Mutter», flüsterte Pilar.
Poirot nickte. In der anderen Seite des Medaillons steckte das Bild eines hübschen jungen Mannes mit schwarzem Haar und dunkelblauen Augen.
«Mein Vater! Ist er nicht wunderschön?»
«Doch, gewiss. Spanier haben aber im Allgemeinen keine blauen Augen, nicht wahr, Mademoiselle?»
«Die aus dem Norden manchmal schon. Übrigens war die Mutter meines Vaters Irin.»
«Spanisches, englisches, irisches und ein Schuss Zigeunerblut», zählte Poirot lachend auf. «Mit dieser erblichen Belastung könnten Sie sich viele Feinde schaffen,
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