Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
dieser Schwester von frühester Kindheit an besonders
zugetan.
Das Jahr 1878 bringt nach Adele und Hermann einen kleinen Bruder
Paul, der am 14. Juli geboren wird und im Dezember bereits stirbt.
Der Vater ist auf Missionskongressen viel unterwegs. So reist er nach
Barmen, nach Bremen, nach Heilbronn. Im andern Jahr 1879 bricht
der kleine Hermann sein rechtes Ärmlein, ohne Fall, bloß durch
ungeschickte, gewaltsame Bewegung. Die Mutter notiert über den
zweijährigen Jungen: »Gott Lob, es ging sehr gut vorüber, doch war
es eine schwere Zeit und harte Schule, den unglaublich lebhaften
und verwegenen Jungen zu hüten.« Klingt es nicht, als handle es
sich um einen Zehnjährigen? Auch in diesem Jahre wieder wird ein
Kind geboren, Gertrud (im August); das Kind stirbt bereits ein halbes
Jahr später. Das Märchenwort »Speckbröckelein« taucht im
Tagebuch auf. Vom dreijährigen Knaben heißt es Ende Dezember:
»Entwickelt sich sehr rasch, erkennt alle Bilder sofort, ob sie aus
China, Afrika oder Indien, und ist sehr klug und unterhaltend; aber
sein Eigensinn und Trotz sind oft geradezu großartig.«
Das Jahr 1880 nennt die Mutter »ein Jahr der Gnade und Zucht«. In
der Karwoche betet sie: »Herr, lehre mich etwas von der seligen
Gemeinschaft deiner Leiden, zieh mich nur zu dir!« Oh, sie ist nicht,
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wie man annehmen könnte, erkrankt. Sie ist nur, in einer
merkwürdigen Relation mit dem Geburtsdatum ihres Sohnes, in ein
inniges Gebetsleben versunken, das sich ungeachtet vieler Besucher
und Verwandte bei der baldigen Übersiedlung nach Basel noch
verstärkt. Mitunter steigt bei der Lektüre des Tagebuchs der Eindruck
auf, daß die Tragödienhöhe der Gefühle nicht immer gleichen Schritt
zu halten vermag mit dem Alltag, in dem sich diese Frau verzehrt.
Aber wer vermag über die Abwesenheit und die Anliegen einer
betenden Mutter auszusagen? Ein fünftes Kind, des Dichters
Schwester Marulla (der Vater ist ja Russe) wird geboren. Von
Hermann heißt es: »Er ist unglaublich lebhaft und intelligent, dabei
leidet er an großer Heftigkeit.« Dann kommt (Neujahr 1881) bereits
die Berufung des Vaters nach Basel und der sechsjährige Aufenthalt
dort.
Der Dichter hat seine frühesten Erinnerungen an Basel in einem
selten gewordenen Büchlein dargestellt, in den »Hinterlassenen
Schriften und Gedichten von Hermann Lauscher«, herausgegeben
von H. Hesse, Basel 1901. Die Familie wohnte draußen vor dem
Spalentor im Bereich des Missionshauses, an dem der Vater die
Kandidaten unterrichtete. Die Kinder kamen nur selten in die Stadt.
Hermann besuchte die für die Kinder der Missionare errichtete
Knabenschule. Orgelklänge, Psalmen und Betstunden mischen sich in
die Freuden auf der damals noch viel ausgedehnteren sogenannten
»Schützenmatte«. Die hohe wogende Märchenwiese, auf der die
Mutter mit den Kindern zu spielen pflegte oder auch kleine ländliche
Ausflüge mit ihnen unternahm, begann gleich hinterm Elternhaus.
»Wenn ich mich streng auf meine früheste Zeit und ihre Stimmungen
besinne«, sagt Hermann Lauscher, »habe ich den Eindruck, es müsse
nächst dem Sinn für Wohlwollen kein Gefühl so früh und stark in mir
wach gewesen sein wie das der Schamhaftigkeit. Mit meiner
Schamhaftigkeit, welche schon früh mit einem Widerwillen gegen
eigenmächtige Berührung meines Leibes durch fremde Hände des
Arztes oder der Dienstboten begleitet war, hängt vielleicht meine
frühzeitige Lust am Alleinsein im Freien zusammen. Die vielen
stundenlangen Spaziergänge jener Zeit hatten immer die
unbetretensten grünen Wildnisse zum Ziel. Diese Zeiten der
Einsamkeit im Grase sind es auch, die beim Erinnern mich besonders
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stark mit dem wehen Glücksgefühl erfüllen, das unsere Gänge auf
Kindheitswegen meist begleitet.« Der sommerliche Duft des
Basellandes und die Schützenmatte mit ihren Zittergräsern und
Schmetterlingen, mit ihren Lichtnelken und Wasserpflanzen, ihren
Glockenblumen und Skabiosen gibt allen ähnlichen späteren
Darstellungen Hesses Inbrunst und Klang.
Hier fliegt zum erstenmal auch jener Schmetterling Apollo, der in
späteren Erzählungen wiederkehrt: »... er setzte sich in meiner Nähe
an die Erde und regte langsam die wunderbaren alabasternen Flügel,
daß ich ihre feine Zeichnung und Rundung sehen konnte und die
blanken Diamantlinien und auf den Flügelpaaren beide hellblutrote
Augen.« Er taucht dann in einer Skizze vom
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