Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
und Eindringen der Mit-Lebewesen. Besinnung und
Besonnenheit sind schließlich Worte, deren Stamm die Sinne sind.
Diese Sinne sind bei Hesse sehr frei, sehr rein, sehr blank und
geschärft in der Selbst-Besinnung, und wo sich diese nach außen
wendet, heißt sie Besonnenheit.
Diese Anlage aber verursacht nun andererseits dem Biographen eine
große Schwierigkeit. Da dessen Gegenstand, der Dichter Hesse, alles
bereits selbst gesagt oder aber mit genauer Absicht selbst
verschwiegen hat; da er aus jeder Lebensepoche das Wesentliche
nahezu an jedem Punkte in Form gebracht, so gerät der Biograph in
Verlegenheit, was er sollte zu berichten haben, ohne Gefahr zu
laufen, mit weit weniger Glück bereits Gestaltetes und Geprägtes zu
wiederholen, das heißt, sein Buch auf Zitate zu beschränken. So
verhält es sich besonders mit Hesses glücklichster Zeit, den
Knabenjahren in Calw. Ich sehe ihn dort über den Marktplatz
schlendern, und die lachenden Mägde am Brunnen spritzen einander
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mit Wasser. Ich sehe ihn auf der vermoosten Brücke sitzen bei der
Nikolauskapelle oder draußen stehen am Wehr mit dem Angelgerät.
Ich sehe ihn im Studierzimmer des Großvaters, der einen Schlafrock
aus indischem Kamelhaar trägt; sehe ihn seinen älteren Brüdern, die
in den Kirchenkonzerten singen, den Blasebalg treten oder der
Mutter die Kerzen am Klavier anzünden und die Notenblätter
umwenden. Er zimmert seinen Hasenstall und kommt die
Falkengasse herunter. Er erledigt seine Raufereien und wird am
Abend mit Hans im Garten sanft fallende Raketen abfeuern.
Aber all dies liest man in seinen Büchern viel besser, als ich es sagen
könnte, und außerdem ist es seinen Lesern längst bekannt. Und was
mir doch nie gelingen würde mitzuteilen, das ist dieser Knabenjahre
eigentliche Atmosphäre, von der ich nicht weiß, ob sie mehr von der
Spiegelung der Schwarzpappeln und Erlen in der Nagold herrührt
oder vom koboldartigen Lärmen und den magischen Sprüchlein
abendlicher Bubenspiele. Vielleicht ist es doch vor allem dies bunte
Lärmen und Entschlafen, dieses Sicherhitzen und den Lockenkopf an
die Mutter lehnen, und ist ein abendliches Wissen um Kraut und Tier
und Wälder und Sterne, was die Knabenjahre zu jener eigenen, in
sich geschlossenen Weit erhebt. Mir ist aus solchen Jahren
erinnerlich, daß ich gar nicht glauben konnte, das Liebhaben sei ein
Ding für so große und ernsthafte Menschen wie es die Erwachsenen
nun einmal sind; nur Kinder könnten lieben; nur sie hätten die zarten
Glieder und scheuen Gedanken, die heimliche Scham der Gefühle,
und jene Tränen-Allwissenheit, die zur Liebe doch zu gehören
scheint.
Wenn es aber nun in Hesses Leben einen Haupt- und Generalpunkt
gibt, den der Dichter noch nicht erschöpft und auf gelöst hat; wo
dem Biographen noch etwas zu sagen bleibt, so ist es diejenige
Zeitspanne, zu deren Beschreibung ich jetzt komme: die Zeit der
Berufswahl und der anschließenden Wirren; die Zeit der Gärung und
der Loslösung vom Vaterhaus, und mit einem Worte: Maulbronn.
Dem Dichter war von den Eltern die Theologenlaufbahn bestimmt. So
war es Tradition und bei jungen Menschen von guter Begabung das
Gegebene. Die theologische Laufbahn entsprach nicht nur den
Wünschen der Familie – sie war außerdem das billigste Studium,
denn für württembergische Theologen gab es vom vierzehnten Jahr
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an eine kostenlose Ausbildung; man brauchte nur das sogenannte
»Landexamen« mit Erfolg zu bestehen. Dieses Examen diente dazu,
aus ganz Schwaben jährlich etwa fünfundvierzig Knaben im Alter von
vierzehn Jahren auszuwählen, die dann als Stipendiaten in eines der
vorbereitenden Seminare (Maulbronn, Blaubeuren, Schönthal, Urach)
und später auf Staatskosten an der Tübinger Universität, ins
weltberühmte theologische »Stift« aufgenommen wurden. Diese
Prüfung blieb auch dem jungen Hesse nicht erspart. Um aber
zugelassen zu werden, mußte der Knabe vor allem schwäbischer
Staatsbürger werden. Der Vater ließ ihn also zum Zweck der
theologischen Karriere Anno 90 oder 91 eigens naturalisieren und in
Göppingen die Lateinschule besuchen.
Die Darstellung des Landexamens und der Seminaristenzeit in
»Unterm Rad« ist lebensgetreu. Nur heißt der Vater Joseph
Giebenrath und ist nicht Missionsprediger, sondern Zwischenhändler
und Agent. Nur ist das Erlebnis in einer Art Spaltung der
Persönlichkeit, die auch sonst in Hesses Büchern, so im
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