Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
»Lauscher«,
im »Demian«, in »Klein und Wagner« hervortritt, an zwei
Freundesgestalten verteilt. Die Flucht des Hermann Heilner aus
Maulbronn ist des Dichters eigene Flucht aus dem Seminar. Aber
auch die seelischen Wirrnisse und Leiden des zurückbleibenden Hans
Giebenrath sind diejenigen des Dichters. Ebenso entspricht die
Lehrzeit des Exseminaristen in einer mechanischen Werkstatt den
biographischen Tatsachen. Hesse hat anderthalb Jahre (von Frühjahr
1894 bis Herbst 1895) in Calw das Schleifen von Rädchen für
Turmuhren gelernt und wohl auch das Montieren von Turmuhren.
Der »Knulp« wäre ohne diese Handwerkslehre wohl kaum
entstanden.
Zwischen der Flucht aus dem Seminar und der rauhen Turmuhren-
Lehrzeit liegen allerlei vergebliche Versuche, sich in irgendeinem
Studium und Berufe zurechtzufinden. Während bis zum Landexamen
und ersten Aufenthalt in Maulbronn alles gut ging und die
Jugendjahre seit Basel fröhlich und unbekümmert verlaufen waren,
ist es seit den Maulbronner Erlebnissen, als wäre der Teufel los. Auf
dem Gymnasium in Cannstatt bleibt der Schüler wenig länger als ein
Jahr; treibt schließlich Allotria, verkauft seine Schulbücher gegen ein
Pistol und muß mitten im Schuljahr aus der Obersekunda fort. Er
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kommt zu einem Buchhändler nach Eßlingen in die Lehre,
verschwindet aber auch dort schon nach drei Tagen. Der Vater
nimmt ihn zurück nach Calw, versucht ihn als Gehilfen bei seinen
Arbeiten zu beschäftigen; es ist aber auch hier nur ein gedrücktes,
unerquickliches Herumsitzen. Er kommt in die Turmuhrenfabrik, und
das Handwerkerwesen mit seinem Rest von laubgrünem
Burschentum und Pennenromantik fesselt ihn erst. Zuletzt aber sind
Kopf und Körper dem Amboß- und Funkenbetrieb nicht mehr
gewachsen. Nach abermaliger Ruhepause im Elternhaus glückt es
dem Jüngling, in der Heckenhauerschen Buchhandlung in Tübingen
unterzukommen. Und nun scheint er am erwünschten Platze zu sein;
er ist nicht gerade Stiftler, aber er lebt doch in Tübingen unter
Studenten und Professoren, mitten in einer gelehrten und
schöngeistigen Welt.
In »Unterm Rad« ist Maulbronn eingehend beschrieben: der gotische
Kapitelsaal, das sogenannte »Paradies«, der romantische Faustturm
(im nahen Knittlingen soll der Doktor Faust ja heimisch sein); die
ankommenden pausbäckigen Schwabenkinder mit ihren Vätern, das
hohe Lehrerkollegium und die mit klassischen Namen versehenen
Schlafsäle, Hellas, Sparta, Athen und Akropolis. Die ganze, in das
wundervolle, ziere Zisterzienserkloster eingenistete staatliche
Drillanstalt mit ihrer Aufgabe, württembergische Staatspastoren
heranzubilden und sie zwecks besseren Gelingens vorher in ein
weltfernes römisch-griechisches Traumbild kräftig einzutauchen: all
dies zieht vorüber.
Was die damaligen Studien betrifft, so scheint der Seminarist Hesse
kein übler Lateiner gewesen zu sein. Er hat es noch neuerdings mit
seinen Übersetzungen aus dem Cäsarius von Heisterbach
(»Geschichten aus dem Mittelalter«, bei Hoenn in Konstanz)
erwiesen. Damals in Maulbronn hatte er eine tückische Vorliebe für
den Juvenal. Den Livius karikierte er unter der Bank; Ranke und
anderen Größen darin sehr unähnlich. Er lernt auch unterscheiden,
was ein Dagesch forte implicitum ist, und vernimmt, daß unser Herr
und Schöpfer ein solches Dagesch forte implicitum zum ersten Male
dem Adam im Paradiese zu erkennen gab. Er quält sich wohl auch,
einen stillen Raum für sein einsames Geigen zu ergattern und
bekundet eine besorgniserregende Vorliebe für die Klosterseen. Er
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gründet eine Art Klassenjahrbuch für Goethestudien, muß es aber
mangels geeigneter Mitarbeiter eingehen lassen.
Der Roman, den ich damit ein wenig ergänzt habe, enthält viele
Schönheiten: so die Calwer Apfelernte und Mostkelterei, ein
liebliches
Dionysosfest;
und
so
die
kleinstädtische
Handwerksromantik vom Schluß des Buches mit ihrem Reutlinger
Volksbüchermilieu. Als literarische Leistung aber ist das Buch nicht
typisch. Man kann finden, daß »Die beiden Tubus« des Hermann
Kurz für den Stiftlerkonflikt bezeichnender sind und daß »Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß« dem Gärungsthema dringlicher zu
Leibe rücken. Eine gewisse Zaghaftigkeit oder absichtliche
Zurückhaltung ist bemerkbar. Geschrieben ist das Buch etwa 1905,
in der Bodensee-Zeit. Wenn der Dichter sich »Hermann Heilner«
nennt, so spricht sich in diesem Namen ein
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