Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
möchte. Und ebenso waren
die Umstände, die ihn sich für den Dichter statt für den Priester
entscheiden ließen, sehr besondere. Daß der Sohn des Johannes
Hesse in Calw, der Enkel des berühmten Gundert, aus Maulbronn
entläuft und die Zöglinge durcheinandergebracht hat; daß er
nirgends guttun will und überspannte Ideen hat –: das alles ist zwar
unangenehm und äußerst peinlich, aber es ist weder ungewöhnlich
noch neu. Ungewöhnlich ist nur der Rahmen, in dem es geschieht,
und neu die Heftigkeit des Knaben.
Vier Mitglieder seiner Familie haben das Maulbronner Seminar
besucht, und wenigstens zwei davon konnten sich nicht ohne
weiteres fügen. Schon der alte Gundert selbst war so ein
irrlichtelierender Freigeist und Straußianer. Ihm war in Maulbronn so
schwindelig geworden, daß er deklamierte, schauspielerte, dichtete
und schöngeisterte auf allerlei Weise. Seine Seminaristenbriefe
zeigten einen so »geistesleeren Übermut«, daß die Eltern persönlich
nach dem Rechten schauen mußten. Auch der ehrwürdige Großvater
hatte einst zwischen »Ernst und Jodelei«, zwischen Sinnenglück und
Seelenfrieden geschwankt und sich mit dem Gedanken getragen
davonzulaufen. Sein selbstgefertigter Klavierauszug aus Mozarts
»Zauberflöte« wollte nicht recht passen zu den frommen Eltern, die
ihrerseits nicht lieb hatten die Welt und ihre Lust. Und damals lehrte
noch ein David Friedrich Strauß in Maulbronn; er hatte, selbst erst
dreiundzwanzig Jahre alt, die jungen Pfarrkandidaten in Latein,
Geschichte und Hebräisch zu unterrichten. Der Vater mochte seinem
Sohne immer sagen, er dürfe Wind nicht mit Geist verwechseln und
er werde schon noch dahinterkommen; es half nicht viel. Der alte
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Gundert mußte seinen eigenen Weg gehen: den nach Indien und von
dort zurück nach Calw.
Und erst des alten Gundert Sohn Paul, des Dichters Onkel! Der kam
1863 ins Maulbronner Seminar und kam dort von Gott noch weiter
ab als jener. »Es wäre wirklich kurios«, so schreibt er nach Hause,
»wenn Gott etwas von mir haben wollte, nachdem ich ihm so lange
nein gesagt. Ich kann nichts anderes machen; euch anlügen, daß es
gut mit mir stehe, das kann ich nicht; lieber sage ich euch geradezu,
daß ich ein gemeiner Mensch bin und dazu ein verlorener.« Der
Briefwechsel, den Hesses Vater selbst publiziert hat, könnte ebenso
zwischen ihm und dem Dichter stattgefunden haben. »Ich höre, du
habest Karzer gehabt; es wird noch anderes nachfolgen. Wer nicht
hören will –, nun du weißt ja den Spruch. Wir müssen freilich
mitfühlen, doch können wir das, weil wir dich in Gottes ganze
Strenge und Barmherzigkeit übergeben haben. Er übe ferner sein
Gericht an dir und führe es zum Sieg hinaus!« So schreibt man sich
damals; es sind nicht eben Briefe, die Balsam träufeln ins Herz von
Zwangskandidaten. Diese Kandidaten kommen sich verkauft vor und
verraten. Der Delinquent antwortet: »Mir für meine Person ist alles
ganz gleichgültig, was mein Schicksal ist. Glücklich bin ich schon
längerher nicht gewesen, werde es auch, wie ich deutlich spüre, nie
mehr sein.« Er verharrt »in Trotz gegen Gott und die Menschen«.
Selbst der jähe Tod des edlen Ephorus Bäumlein, der mit den Worten
»Tut Buße!« tot vom Katheder niedersinkt, hinterläßt keinen tieferen
Eindruck. Schließlich und am Ende aber haben sich beide, Vater und
Sohn, doch bekehrt. Die Tradition im Schwabenlande ist zu mächtig;
der einzelne begehrt in der Jugend auf, fügt sich aber bald und kehrt
in der Spirale zum Ausgang zurück. Es ist der Gegensatz von Sein
und Werden, von Glauben und Wissen, von Gesetz und Evangelium;
Gegensätze, die in Schwaben heimisch sind.
Und gleichwie diese Gegensätze dort bis zur Weißglut gediehen, als
Zwiespalt zwischen Pietismus und Rationalismus, zwischen
Doktrinären und Entwicklungsphilosophen, zwischen Hegel, Strauß,
Vischer einer- und der protestantischen Orthodoxie andererseits, so
scheint es in Schwaben eine typische Neurose junger Menschen zu
geben, die ins Seminar einrücken. Eine Neurose, die teils mit der
aufreizenden Lebenslust der klassischen Studien, teils mit jener
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tyrannischen Bußstimmung zusammenhängt, die dem mißtrauisch
forschenden Studiosus von Staats wegen nahegebracht wird.
Gestrenge, schließlich sogar militärische Autoritäten wie Staat, Geld
und Interesse können bei allem frömmigen Anstrich mit einem
selbstlosen und ungebrochenen Willen nicht
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