Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
Verlangen nach
Gesundheit, vielleicht ein Bemühen darum aus. Man spürt dem
Thema des Buches nach, vergleicht es mit »Lauscher«, mit
»Demian«, mit den Tagebüchern der Mutter und findet dann, daß
Hesse offenbar, als er den Roman schrieb, Zurückhaltung übte,
sowohl aus Pietät wie aus einer Art Vorsicht der seelischen
Ökonomie. Er bemüht sich um Stille und harmlosen Vordergrund;
daß er dies aber benötigt, ist für den Lebensweg wichtig.
Die hellsichtige innere Welt des »Lauscher« fehlt im Maulbronner
Roman; sie ist zurückgedrängt zugunsten einer beruhigten
Oberflächlichkeit. Gewiß, jene Welt meldet sich mitunter an: so wenn
der Schüler Giebenrath plötzlich, mitten im Unterricht, vor Ermüdung
und Überlastung in ein visionäres Halluzinieren versinkt; so wenn er,
nach Verlassen des Seminars »Tage voll fruchtloser Klagen,
sehnlicher Erinnerungen, trostloser Grübeleien« erlebt; wenn er im
Stelldichein mit einer »gesunden und heiteren jungen Heilbronnerin«
schamhafte Beklommenheit fühlt und wegläuft; wenn er, nach
großäugigen Träumen, »durch ungeheure Räume stürzend« erwacht
und Unglück und Verlust empfindet. Aber das ganze Unglück fällt
doch den Lehrern zur Last, und es ist nicht recht ersichtlich, warum
der Schüler das Landexamen als einer der Besten bestand und dann
mit einem Mal versagte. »Es drängte und schrie nach mehr«, sagt
der Dichter, »nach einer Erlösung seiner erwachten Sehnsucht oder
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nach einem Führer durch die Rätsel, deren Lösung ihm allein zu
schwer war.«
Sie meldet sich an, die Lauscherwelt, sie möchte hervorkommen, wie
sie im »Demian« später hervorkommt; aber der Dichter fürchtet
diese Welt; sie könnte ihn zerreißen. Er will, da er »Unterm Rad«
schreibt, lieber Giebenrath, das Talent, als Heilner, das Genie, sein.
»Seine ganze Phantasie hatte sich in diesem schwülen, gefährlichen
Dickicht verstrickt, irrte verzagend darin umher und wollte in
hartnäckiger Selbstpeinigung nichts davon wissen, daß außerhalb
des engen Zauberkreises schöne weite Räume licht und freundlich
lagen.« Das trifft nicht nur auf den Seminaristen, das trifft ein wenig
auch auf den in Gaienhofen lebenden Schriftsteller noch zu, der auf
dem Bodensee Rudersport treibt, wie der Schüler Giebenrath das
Angeln bevorzugt und wie der spätere Dichter Hesse sich dem Malen
zuwendet.
Angeln,
Rudern
und
Malen:
es
sind
Introvertitenbeschäftigungen; Sporte, die dem Heilen und den
Heilnern dienlich sind.
Der Bruch mit Tradition und Familie bei der Berufswahl hat in Hesse
lange Zeit eine Wunde hinterlassen. Stets blieb er sich bewußt, daß
dort, in der Maulbronner Erlebnisreihe, die eigentliche Entscheidung
seines Lebens lag. Er versuchte immer wieder, das primäre Erlebnis
zu
gestalten
und
sich
mit
den
damaligen
Fakten
auseinanderzusetzen. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Abschnitt
seines Lebens die letzte Gestaltung bereits erfahren hat, trotz
»Demian«, der den Roman »Unterm Rad« annulliert; trotz
»Siddhartha«, der den Konflikt mit dem Vater bereits ganz in die
klare, legendäre Höhe einer harmonischen Ablösung vom heimischen
Priestermilieu verlegt.
In seinem »Kurzgefaßten Lebenslauf« (1925) sagt der Dichter von
den Pesönlichkeitskämpfen jener Jahre, daß sie ihn »wider Willen, als
ein furchtbares Unglück« umgaben; er deutet sie als ein
hartnäckiges Kämpfen um sein ihm mit dreizehn Jahren bereits
bewußt gewordenes Dichtertum. »Von meinem dreizehnten Jahr an
war mir das eine klar, daß ich entweder ein Dichter oder gar nichts
werden wolle. Zu dieser Klarheit kam aber allmählich eine andere
peinliche Einsicht. Man konnte Lehrer, Pfarrer, Arzt, Handwerker,
Kaufmann, Postbeamter werden, auch Musiker, auch Maler oder
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Architekt, zu allen Berufen der Welt gab es einen Weg, gab es
Vorbedingungen, gab es eine Schule, einen Unterricht für den
Anfänger. Bloß für den Dichter gab es das nicht! Es war erlaubt und
galt sogar für eine Ehre, ein Dichter zu sein. Ein Dichter zu werden
aber, das war unmöglich; es werden zu wollen, war eine
Lächerlichkeit und Schande, wie ich sehr bald erfuhr.«
Der Konflikt war aber, ungeachtet dieser Deutung, reicher und
prinzipieller. Der Knabe Hesse (»Chattus puer« nannte ihn sein
Lateinlehrer in Göppingen), dieser Knabe Hesse war nicht nur
Giebenrath, sondern auch Hermann Heilner, und also ein besonderer
Knabe, von dem man gerne mehr wissen
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