Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
reißt noch bei der Erinnerung ungläubig, fast entsetzt die Augen auf.
Sofort schwärmten Görings Offiziere aus, durchsuchten das Haus und fanden heraus, dass es sich bei den Angreifern um zwei junge Mädchen handelte. Sobald feststand, dass es nur Kinder aus einem ehrbaren Haushalt waren, der dem gefährdeten Nachwuchs des Reichs Obdach gewährte, konnte auch Hermann über den Vorfall lachen, schließlich hatte er in seiner Jugend selbst gern Streiche gespielt. Auch Hohensinn entspannt sich beim Erzählen wieder und beginnt zu lachen. Doch dann wird er schlagartig ernst, nimmt die Hände vom Tisch, als wollte er uns bedeuten, näher heranzurücken, und fügt mit gesenkter Stimme hinzu, die örtlichen Parteimitglieder hätten die Episode mit weniger Humor genommen und sie der Familie Hohensinn nie verziehen. Diese Parteimitglieder hätten übrigens nie Kinder aus den zerbombten Städten des Reichs bei sich aufgenommen.
Hohensinn ist ein begnadeter Erzähler. Er sprudelt über vor Anekdoten und malt seine Erinnerungen theatralisch aus. Mal hebt er die Hände, um die Dramatik eines Ereignisses zu betonen, mal legt er sie vor sich auf den Tisch, wenn er Ernsteres zu sagen hat. Er weiß genau, wann er eine Kunstpause einlegen oder langsamer werden muss, um die Pointe einzuleiten. Innerhalb weniger Sätze wechselt seine gesamte Haltung von Glück und Freude zu Trauer und Verzweiflung. Das ist allen Interviews gemeinsam, die ich mit Überlebenden des Krieges geführt habe: Menschen, die derart harteZeiten durchgemacht haben, schwanken offenbar leicht zwischen emotionalen Höhen und Tiefen, und ich mache jeden Anstieg und jeden Absturz dieser psychischen Achterbahnfahrt mit.
Wieder zieht Hohensinn die Hände vom Tisch, und das Gespräch nimmt eine ernstere, unerwartete Wendung. »Mein Vater wurde ins KZ gesteckt, weil er nicht in die Partei eintreten wollte … Das war damals schon ein Grund. Das war Führerbeleidigung. Mein Vater war gegen die Nazis, und er war vielleicht nicht der Schlaueste. Er hatte keine Ahnung, wie brutal das Regime sein konnte. Das wusste man nicht so genau«, erklärt Hohensinn, »und die Gestapo kam ja immer nachts. Davon haben Sie vielleicht schon gehört. Sie warfen einen Stein ans Fenster, und dann musste man nachsehen, was los ist, und so haben sie auch meinen Vater mitgenommen.«
Sein Vater wurde in das Konzentrationslager Dachau gebracht und lernte dort Dr. Gorbach kennen, der später österreichischer Bundeskanzler und ein enger Freund der Familie werden sollte. Während er die harte Zwangsarbeit erdulden musste, wusste seine verängstigte Familie nicht einmal, wo er war. Doch Hohensinns waren gut mit der Familie Rigele befreundet, und die Dame des Hauses war Olga Rigele, geborene Göring, Alberts und Hermanns ältere Schwester. Frau Hohensinn wandte sich hilfesuchend an die Rigeles, und einige Monate später wurde ihr Mann wundersamerweise entlassen. In den Jahren darauf erwähnte Vater Hohensinn seine Erlebnisse in Dachau mit keinem Wort, teils weil er traumatisiert war, aber teils auch aus Angst. Am Lagertor hatten seine Bewacher ihm eingeschärft: »Wenn du nur ein Wort von dem erzählst, was du hier erlebt hast, sehen wir uns wieder!« Erst lange nach dem Krieg begann er über seine Erlebnisse im KZ zu sprechen.
»Und Albert, also dieser Albert«, fährt Hohensinn aufgeregt fort. »Ich habe erst bei diesem Interview damalsgehört, dass mein Vater auf Alberts Liste stand.« Mit »diesem Interview« meint er den Dokumentarfilm über Albert Göring, in dem ich Hohensinn gesehen habe, und Alberts Liste ist die Liste der Geretteten. Ich bin ebenso überrascht wie Hohensinn – in der Dokumentation wurde nicht erwähnt, dass sein Vater auf der Liste stand und Albert sich für ihn eingesetzt hatte.
»Frau Rigele muss wohl Albert angerufen haben, der dann mit Hermanns Hilfe eingegriffen hat«, erklärt Herbert Hohensinn. »Hermann hatte für seine Familie immer ein offenes Ohr.« Frau Hohensinn hätte demnach Olga Rigele von der Verhaftung ihres Mannes erzählt, die daraufhin Albert in Bukarest kontaktierte, wo er für Škoda arbeitete. Und Albert hatte, entweder selbst oder mit Hermanns Hilfe, dafür gesorgt, dass Hohensinns Vater freigelassen wurde.
Hohensinn vermutet auch, dass Albert beim Verfassen seiner Liste wusste, dass sein Vater sich für ihn einsetzen würde. Denn die Männer hatten etwas Entscheidendes gemeinsam: Sie wurden beide von der Gestapo terrorisiert. Genau wie
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