Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
tummelte er sich wieder in der politischen Szene. Dem amerikanischen Psychiater Leon Goldensohn gegenüber beschrieb Hermann seine erste Begegnung mit Hitler später mit den Worten: »Ich war gegen den Versailler Vertrag, und ich war gegen den demokratischen Staat, der darin versagt hatte, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen, und der Deutschland nicht zu einer mächtigen Nation, sondern zu einem kleinen, unbedeutenden Staat gemacht hatte. […] Ich lernte Hitler 1922 bei einer Versammlung kennen und war zunächst nicht besonders beeindruckt von ihm. Bei dieser ersten Begegnung sprach er sehr wenig, genau wie ich. Ein paar Tage später hörte ich Hitler bei einer Rede in einem Münchener Bierlokal, wo er von einem größeren Deutschland sprach, von der Annullierung des Versailler Vertrags, von der Aufrüstung Deutschlands und von der zukünftigen Herrlichkeit des deutschen Volkes. Deshalb schloss ich mich ihm an und wurde Mitglied der Nationalsozialistischen Partei.« 45
Hitler und die Nationalsozialisten hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine allzu große Gefolgschaft und wurden von den großen gesellschaftlichen Autoritäten nicht ernst genommen: vom Militär, den großen Industriellen und etablierten Parteien. Hitler brauchte ein bekanntesGesicht, einen achtbaren Namen, den jeder kannte, den auch die gesellschaftliche Elite respektierte. Er brauchte einen Namen, der ihm den Weg in den Reichstag ebnete. Hermann Göring war genau das, was er suchte. Und Göring wiederum sah in ihm einen Mann voller Enthusiasmus und Charisma, einen Mann, der ohne Scheu seine Meinung sagte und dem er es zutraute, den erhofften gesellschaftlichen Wandel einzuleiten. In Hitler entdeckte Göring den ersehnten Führer.
So begann im Jahr 1922 die berühmt-berüchtigte Liebesaffäre der beiden Männer, und wie in jedem klassischen Drama musste auch hier die keimende Zuneigung eine Belastungsprobe überstehen. Zu dieser Probe kam es an einem Freitagnachmittag, dem 9. November 1923, auf dem Münchener Odeonsplatz vor der Feldherrenhalle. Zwei Schusswunden in die Leiste und die Hüfte belegten Hermanns Treue. Die Kugeln wurden von Beamten der bayerischen Landespolizei abgefeuert, die man herbeigerufen hatte, um den später sogenannten Hitlerputsch zu zerschlagen – Hitlers ersten Versuch, der Weimarer Regierung ihre Macht abzuringen. Mit diesem Tag begannen für Hermann Göring vier sehr lange, dunkle Jahre. Er entging zunächst der Verhaftung, wurde jedoch polizeilich gesucht und begab sich schwerverletzt auf die Flucht nach Österreich, Italien und schließlich nach Schweden. Es war eine Flucht aus seinem Vaterland und aus der Realität. Die ständigen körperlichen und seelischen Schmerzen trieben ihn in die Morphinabhängigkeit und führten zu Stimmungsschwankungen zwischen Apathie und unkontrollierten Wutausbrüchen. Letztere brachten ihm Aufenthalte in verschiedenen schwedischen Nervenkliniken ein. Nur die Loyalität seiner Frau Carin trug ihn über diese Phase seines Lebens hinweg.
Albert Göring ging es unterdessen sehr gut. Er lebte mit seiner zweiten Frau in Dessau und trat dort 1925 eineStelle in Professor Hugo Junkers’ Kaloriferwerk an. Junkers war vor allem für seine Erfolge in der Luftfahrtindustrie bekannt, doch den Großteil der Betriebseinnahmen generierte die Herstellung von Boilern und Heizungssystemen. In diesem Bereich arbeitete auch Albert. Schon 1928 wurde er zum Verkaufsrepräsentanten für Österreich, Ungarn und die südliche Tschechoslowakei befördert. 46 Das ermöglichte ihm den Umzug nach Wien und, was wichtiger war, den Wegzug aus dem Zugriffsbereich von Hermann Görings SA und ihrer hasserfüllten Propaganda.
In seiner neuen Stellung war Albert in seinem Element. Er bereiste ständig Budapest und Prag und lud seine Kunden in die schönsten Wiener Kaffeehäuser und Restaurants ein. »Nach seinen eigenen Erzählungen hat er sich in dem Dreieck zwischen Wien, Prag und Budapest immer am wohlsten gefühlt – damals war das das eigentliche Zentrum Europas«, erinnert sich Edda Göring, Hermann Görings einzige Tochter, Alberts Nichte. »Dort arbeitete er. Dort hatte er die meisten Freunde. Das war seine Welt. Er passte dort sehr gut hin, so elegant, charmant, intelligent und humorvoll, wie er war.« 47
In der halbseidenen Welt der Cabarets, der stilvollen Grandezza osteuropäischer Kaffeehäuser und Klubs trat Albert aus dem Schatten seines großen Bruders hervor. Er entwickelte sich zu einer
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