Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Hoorn von seinen Erfahrungen in der Antarktis erzählt hatte, hatte sie ihn gefragt, wie das unter solchen Bedingungen mit Sex sei. Leon hatte gelacht: Wozu sie das wissen wolle? »Na, du gefällst mir ein bisschen«, hatte Angela unverblümt erwidert. »Könnte schon sein, dass ich dich mal anbaggere.« Da war selbst der welterfahrene Leon sprachlos gewesen.
Bis jetzt hatte sich in der Richtung aber noch nichts weiter entwickelt, soweit Charlotte das mitbekommen hatte. Von Amsterdam waren sie nach Helsinki geflogen, weil Adrian sich in den Kopf gesetzt hatte, so viel wie möglich von Europa zu sehen, wenn er schon einmal hier war. Im dortigen Hotel hatten die beiden Frauen sich ein Zimmer geteilt, und an dem Abend hatte Angela ihr erklärt, sie müsse Leon erst noch ein bisschen beschnuppern. Dann hatte sie ihr einen Vortrag über Funktion und Spielarten der Balz in der Tierwelt gehalten, von dem Charlotte vielleicht die Hälfte verstanden hatte. Da war sie sich zum ersten Mal ernsthaft fehl am Platz vorgekommen.
Aber wenn einem vor nichts grauste, schien mit ihr gut auskommen zu sein. Charlotte fragte sich, wie ihr Vater, der Diplomat, der praktisch niemals sagte, was er wirklich dachte, und Angela wohl miteinander klargekommen wären.
Von Helsinki waren sie mit einem Mietwagen nach Sankt Petersburg gefahren, wo Adrian, unbedingt, noch eine Stadtführung mitmachen musste. Am nächsten Tag hatten sie den Zug nach Murmansk genommen, und auf dieser Fahrt war es Morley zum ersten Mal schlecht geworden.
Morley Mann war Klimatologe wie Adrian. Sein Spezialgebiet waren Klimasimulationen im Computer, und er verkörperte sozusagen das Gegenteil von Leon: wuschelhaarig, schmächtig, unsicher und so empfindlich, dass er unwillkürlich Beschützerinstinkte wachrief. In Sankt Petersburg hatte er darauf bestanden, noch etwas zu essen, ehe sie in den Zug stiegen, und zwar an einem Imbissstand, der so unappetitlich ausgesehen hatte, dass Charlotte dort nicht einmal eine Serviette in die Hand genommenhätte. »Damit ich nicht in Unterzucker komme«, hatte Morley erklärt. Kurz nach Wolchow war er dann zum ersten Mal auf die Toilette gestürzt, um sich zu übergeben.
Es war absehbar, dass Morley sich im Polarmeer schwertun würde.
Morley habe unbedingt mitkommen wollen, hatte Adrian ihr anvertraut. Um Erfahrungen zu sammeln. Sich seine Männlichkeit zu beweisen, vielleicht. Auf jeden Fall habe er ein Buch gelesen, das dazu riet zu tun, wovor man Angst habe, und war entschlossen, diesen Rat zu befolgen.
Deswegen hing er jetzt hier in den Sicherheitsgurten, weiß im Gesicht und halb im Koma. »Kümmert euch nicht um mich«, hatte er noch rausgebracht. »Wenn wir da sind, wird alles besser.«
In Murmansk hatten sie sich zusammen mit ihrer Ausrüstung, die per Spedition angeliefert worden war, auf einem Eisbrecher der russischen Marine eingeschifft. Der hatte sie zu einem Militärstützpunkt auf Nowaja Semlja gebracht, wobei Morley unterwegs selbstredend seekrank geworden war. Auf dem Stützpunkt war ihre Ausrüstung zum etwa siebten Mal genau kontrolliert worden, ehe man ihnen erlaubte, alles in den Hubschrauber zu laden. Anschließend ging es sofort los. Dass es schon Abend war, spielte keine Rolle; sie befanden sich nördlich des Polarkreises, die Sonne würde bis Oktober nicht mehr unter den Horizont sinken.
Adrian erzählte dem Copiloten alles über ihre Expedition, was es zu erzählen gab: dass sie von der Boston University kamen. Dass die Daten, die sie auf der Insel Saradkov gewannen, in ein weltweites Projekt einfließen würden, in dessen Rahmen im Lauf der nächsten Jahre bis zu hundert Polarinseln untersucht werden sollten, um anhand der Ergebnisse die Klimamodelle zu verbessern. Dass Saradkov darunter die erste russische Insel sein würde. Alles, was er schon hundertmal irgendwelchen Entscheidern, Presseleuten und unter anderem auch ihr, Charlotte, erzählt hatte. Als er damit durch war, fragte derCopilot, ob Adrian eigentlich wisse, dass Saradkov im Volksmund auch »die Teufelsinsel« genannt werde?
Charlotte lehnte den Kopf nach hinten, schloss die Augen und tat, als habe sie das nicht gehört. Sie hatte Adrian absichtlich nichts von diesen Legenden erzählt.
»Die Teufelsinsel?«, wiederholte Adrian. »Wieso das?«
Der Copilot lachte. »Also, ich habe da ja meine eigene Theorie. Wissen Sie, wie die Insel aussieht? Auf der Karte, meine ich?«
»Klar«, erwiderte Adrian. Sie führten eine ganze Mappe mit
Weitere Kostenlose Bücher