Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
»Ach ja«, fiel dem Copiloten ein. »Sie müssen Ihr Funkgerät testen, ehe wir abfliegen. Das ist Vorschrift.«
Adrian holte das Gerät, das die Größe eines Aktenkoffers hatte und vertrauenserweckend solide aussah, mit dicken, stattlichen Schaltern, die man auch mit Fausthandschuhen bedienen konnte. Als Antenne diente ein zwanzig Meter langes Kabel, das zwei Personen wie eine Wäscheleine aufspannen mussten. Charlotte wollte das eine Ende nehmen, doch Adrian schüttelte den Kopf und reichte ihr Kopfhörer und Mikrofon. »Dein Part ist, mit denen zu reden! «
Na endlich – sie wurde gebraucht! Charlotte drückte die Sprechtaste. »Hier Forschungslager Saradkov«, sagte sie auf Russisch. »Ich rufe Basis Rogachevo. Rogachevo, bitte melden.«
Es knackte und rauschte im Kopfhörer, dann hörte sie eine belustigt klingende, tiefe Stimme. »Saradkov, hier Nowaja Semlja, Basis Rogachevo. Ich höre Sie klar und deutlich. Wie ist das Wetter dort oben?«
Charlotte musste schmunzeln. »Zu kalt zum Baden, fürchte ich.«
» Otschen shal! Aber wer weiß, vielleicht gibt es ja einen heißen Sommer.« Die Stimme wurde förmlich. »Funktionstest erfolgreich. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Rogachevo, Ende.«
»Danke. Saradkov, Ende.« Charlotte schaltete ab. Sie war froh, die Kopfhörer abnehmen und die Kapuze wieder über ihren Kopf ziehen zu können.
Als sie aufsah, blickte sie in die Augen des Copiloten. »Sie sind die Tochter des französischen Botschafters, hat man uns gesagt«, meinte der.
»Äto wjerno« , bestätigte Charlotte.
»Sie sprechen hervorragend Russisch. Wenn Sie mir erzählt hätten, dass Sie Moskowiterin sind, hätte ich Ihnen das geglaubt.«
Charlotte erhob sich, lächelte. »Sie übertreiben.«
»Kein bisschen.«
Nun winkte auch der Pilot, der offenbar die Rückmeldung bekommen hatte, dass die Funkverbindung funktionierte. Er schien sogar so etwas wie ein Lächeln zu versuchen, aber da war sich Charlotte nicht sicher. Sie winkte trotzdem zurück.
Der Copilot schüttelte ihr die Hand, dann den anderen, wünschte ihnen viel Glück und alles Gute und verabschiedete sich mit: »Bis in drei Monaten!«
Dann kehrte er zum Hubschrauber zurück, winkte noch einmal, während er sich anschnallte. Im nächsten Moment heulte die Turbine auf, und die Maschine hob ab. Eine Wolke dunklen Qualms hinter sich herschleppend, donnerte sie über das graue müde Meer davon.
Sie blieben alle stehen und sahen dem Hubschrauber nach, bis er außer Sicht und nicht mehr zu hören war. Da sind wirnun, dachte Charlotte. Fünf Leute, abgeschnitten von der Welt. Kein Telefon, kein Internet, kein Fernsehen. Drei Monate lang. Allein und aufeinander angewiesen.
Doch obwohl ihr die Kälte schon jetzt in alle Glieder kroch, hätte sie zu ihrem eigenen Erstaunen am liebsten laut gejauchzt vor Begeisterung.
Einen Moment lang standen sie alle still da, trotz der Kälte. Jeder schien den Augenblick auszukosten, in dem ihr Abenteuer im Polarmeer begann.
Dann kam Leon van Hoorn zurück, der aus einiger Distanz alles fotografiert hatte – die Verabschiedung, den Abflug des Hubschraubers; auch während des Ausladens war er immer wieder davongesprungen, um rasch ein paar Bilder zu schießen. »Ganz schön frisch, was?«, rief er, seine Kamera in ihre Schutzhülle packend. »Da wünscht man sich doch fast, das mit der globalen Erwärmung wäre schon ein bisschen weiter gediehen.«
Die beiden Klimatologen warfen ihm unisono finstere Blicke zu. »Das ist nicht witzig, Leon«, meinte Adrian.
Der hob entschuldigend die Hände, grinste. »Alles klar. Ich sollte nicht versuchen, Witze zu reißen. Hat meine Ex-Freundin auch immer gesagt.«
Adrian nickte unwillig und schaute dann in die Runde. »Okay. Punkt eins der Tagesordnung: Unterkunft.« Er blickte zweifelnd in Richtung der abgewrackt aussehenden Hütte, die ein paar Hundert Meter entfernt am Fuß des Berghangs stand. »Die Wetterstation auf Saradkov war von 1949 bis 1967 in Betrieb. Das heißt, das Ding steht seit über vierzig Jahren leer. Ist wahrscheinlich nur noch eine Ruine.«
»Anschauen können wir sie uns doch trotzdem«, meinte Angela. »Es ist immerhin die einzige Sehenswürdigkeit von Menschenhand hier.«
Adrian hob die Augenbrauen. »Das Sightseeing wird schon nicht zu kurz kommen. Aber zuerst sollten wir einen Platz fürdie Zelte finden. Möglichst eben und windgeschützt –« Er hielt inne, blickte die Küstenlinie entlang. Hier gab es keine windgeschützten
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