Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
von denen die Frau in der Bibliothek immer sagte, sie seien noch zu schwierig für jemanden in seinem Alter. Er versuchte zu verstehen, wie so eine Gabe funktionieren mochte. Nach allem, was er wusste, war das nicht möglich. Er hatte noch nie etwas davon gehört, dass Gegenstände die Gedanken von Menschen speicherten.
»Das glaube ich nicht«, sagte er.
»Als ich die Teile aus dem Baukasten angefasst habe, habe ich die Selbstmordgedanken des Jungen gespürt. Sie umgeben den ganzen Karton, als würde er leuchten, weil er ständig damit gespielt hat«, erklärte Charlotte. »Als ich die reparierte Puppe zurückbekommen habe, habe ich gesehen, wie du mich damalsim Regen beobachtet hast und wie du hinterher nach mir Ausschau gehalten hast. Deswegen wusste ich, wo du wohnst.«
»Ich glaube eher, du hast mich einfach am Fenster sitzen sehen.«
»Nein, hab ich nicht.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich hab das noch nie jemandem erzählt. Meine Mutter wundert sich immer, warum ich so gerne in Museen gehe. Ich mag aber nur die, wo man auch etwas anfassen kann.« Sie sah auf, hatte plötzlich ein Leuchten in den Augen. »Wenn man ganz alte Sachen berührt – richtig alte Dinge –, das ist, als würde man tausend Bücher auf einmal lesen, in einer Sekunde. Manchmal spürt man Hunderte von Leuten auf einmal, bekommt eine Ahnung, wie sie früher gelebt haben, wovor sie Angst hatten, wovon sie geträumt haben …«
Hiroshi musterte sie skeptisch. »Ich weiß nicht, wie so etwas gehen soll. Ich kann das nicht glauben.«
Eine Weile saßen sie beide schweigend da. Hiroshi fragte sich, wie es nun weitergehen sollte. Wahrscheinlich war Charlotte jetzt beleidigt. Aber was sollte er machen? Er konnte doch nicht einfach behaupten, dass er ihr glaubte, wenn er es in Wirklichkeit gar nicht tat. Das wäre auf eine komplizierte Weise eine Lüge gewesen.
»Ich hab eine Idee«, sagte Charlotte plötzlich. Sie sah ihn an. »Bring mir nächstes Mal etwas mit, das deinem Vater gehört hat.«
4
Ein Gegenstand, der seinem Vater gehört hatte? Das war gar nicht so einfach, wie es sich anhörte.
Charlotte hatte ihm, ehe er gegangen war, noch einmal genau erklärt, was sie brauchte: einen Gegenstand, mit dem sein Vater in Kontakt gewesen war. »Am besten sind Brillen«, hatte sie gesagt.
»Mein Vater hat keine Brille getragen«, hatte Hiroshi erwidert.
»Dann eine Armbanduhr. Ein Kleidungsstück. Ein Stuhl, auf dem er jeden Tag gesessen hat …«
Stühle besaßen sie überhaupt nicht. Das war eine westliche Erfindung; in Japan saß man auf dem Boden. Kleidung seines Vaters hatte seine Mutter bestimmt nicht, oder jedenfalls nicht mehr – wozu auch? Was Armbanduhren betraf, so verwahrte Mutter zwar eine Uhr, von der sie behauptete, sie sei ein Geschenk seines Vaters und Hiroshi solle sie bekommen, wenn er mit der Schule fertig sei. Aber das hieß ja, dass sein Vater diese Uhr nicht selber getragen hatte.
Fotos besaß Hiroshi ein paar. Die eigneten sich vermutlich aber auch nicht, denn darauf war sein Vater nur zu sehen ; ob er sie jemals auch nur angefasst hatte, war fraglich.
Hiroshi betrachtete ratlos eines der Bilder. Es zeigte seinen Vater als jungen Mann, und da man im Hintergrund ein in Hiragana beschriftetes Schild erkennen konnte, war es bestimmt in Japan aufgenommen worden. Sein Vater hatte ein schmales, fein geschnittenes Gesicht, sah richtig gut aus. Besonders seine Haare faszinierten Hiroshi: eine locker geschwungene Mähne von der Farbe dunklen Goldes … Niemand, den er kannte, hatte solches Haar. Er selber auch nicht, nicht die Spur, leider.
Und dann das Lächeln seines Vaters … Es war ein eigenartiges Lächeln, und deshalb musste Hiroshi sich dieses Foto immer wieder anschauen. An manchen Tagen kam es ihm vor, als müsse sein Vater an diesem Tag sehr glücklich gewesen sein. An anderen Tagen wiederum schien es ihm ein trauriges Lächeln zu sein. Seltsam.
Mutter sprach selten von seinem Vater. Sie hatte ihm einiges erklärt, als er noch wesentlich jünger gewesen war, und seither hielt sie das Thema für erledigt. Sein Vater war aus den USA nach Tokio gekommen, um hier zu studieren, und bei der Gelegenheit hatten die beiden sich kennengelernt: Das war es, was er wusste. Und dass sie mit ihm nach Amerika gegangen war, wo es ihr aber nicht gefallen hatte. Dann war sein Vater plötzlich sehr krank geworden, und seine Familie hatte ihr gesagt, siemüsse wieder gehen. Also war sie, schwanger mit ihm, Hiroshi, nach
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