Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Japan zurückgekehrt und hatte seither seinen Vater nicht wiedergesehen und auch nichts mehr von ihm gehört.
Es stimmte ihn immer traurig, wenn er darüber nachdachte. Er erinnerte sich, wie er sich als Kind manchmal ausgemalt hatte, sein Vater sei ein berühmter Mann, ein Berater des amerikanischen Präsidenten vielleicht, oder ein hervorragender Wissenschaftler, jedenfalls damit beschäftigt, wichtige Dinge für die Welt zu erledigen. Aber eines Tages, so hatte er es sich vorgestellt, würde sein Vater doch kommen, würde ihm die Hand auf die Schulter legen und sagen: So, das also ist mein Sohn. Und dann würde alles wunderbar werden.
Eine Idee kam ihm. Hiroshi legte das Foto beiseite und rutschte zu dem Regal unter dem Fenster, in dessen unterstem Fach er die Blechschachtel mit seinen privatesten Privatsachen aufbewahrte. Im Grunde war es lauter Kram: die Kinokarte des Roboterfilms, von dem er Charlotte erzählt hatte. Ein weißer Handschuh, den er als Kind gefunden hatte; er hatte auf der Lehne einer Bank gelegen, so, als habe sich die Person, die ihn getragen hatte, von einem Moment auf den anderen in Rauch aufgelöst. Das hatte Hiroshi so fasziniert, dass er den Handschuh hatte mitnehmen müssen. Ein Notizbuch mit den Figuren der Masters of the Universe darauf, He-Man und Skeletor. Das hatte er sich aus Gründen, die er nicht mehr nachvollziehen konnte, von seinem ersten Taschengeld gekauft, aber nie gewusst, was er hineinschreiben sollte. Seither lag es eben in der Schachtel.
Ein kleiner blauer Plastikhund. Eine Muschel von irgendeinem Strand, an dem er mit seiner Mutter gewesen war; er hatte keine Ahnung mehr, an welchem.
Und ein Taschenmesser, das seinem Vater gehört hatte.
Es war ein dickes Taschenmesser mit roten Schalen, auf denen ein weißes Wappen mit einem Kreuz darin prangte. Man konnte elf verschiedene Werkzeuge wie Messer, Schraubenzieher, Flaschenöffner oder Schere ausklappen, und als Kind hatteHiroshi sich beim Spielen damit einmal bös in den Finger geschnitten, weil eine Klinge unversehens wieder zugeschnappt war. Seither hatte er das Messer nicht mehr angerührt, hatte es sogar fast vergessen.
Aber das hatte seinem Vater gehört. Das hatte er jahrelang bei sich getragen. Zumindest hatte Mutter das erzählt.
Hiroshi zögerte. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er überhaupt wollte, dass Charlotte ihm irgendetwas über seinen Vater erzählte. Selbst wenn sie sich nur Lügengeschichten über ihn ausdachte. Vielleicht würde sie etwas Hässliches über seinen Vater behaupten, und er wusste nicht, ob er das hören wollte.
Er musste darüber nachdenken.
Tag um Tag verging, ohne dass die Puppe im Fenster auftauchte. Als sie endlich wieder auf dem Fensterbrett saß, zögerte Hiroshi einen Moment, dann steckte er das Taschenmesser ein und rannte los.
»Hast du was dabei?«, wollte Charlotte gleich wissen, und als er nickte, sagte sie: »Dann komm.«
Sie ging mit ihm hinaus in den Garten. »Ich dachte schon, meine Mutter geht überhaupt nicht mehr aus dem Haus«, erzählte sie, während sie über den Rasen marschierten. »Sie hat eine Freundin, mit der sie sich trifft, die Frau des italienischen Botschafters, glaube ich, aber die ist gerade nicht da. Heute ist sie wenigstens mal zum Friseur, das dauert auch mindestens drei Stunden.«
»Warum gehen wir in den Garten?«, wollte Hiroshi wissen.
»Es funktioniert besser in der Natur«, erklärte Charlotte und trat über den Rand des Rasens in ein dicht mit Büschen und Bäumen bewachsenes Areal.
Zwischen all den Bäumen herrschte richtiggehendes Dickicht; man sah die Gebäude nicht mehr, zerkratzte sich die Haut und blieb überall mit den Kleidern hängen. Charlotte schien sich hier gut auszukennen. Sie marschierte bis zu einerStelle, an der sie Platz hatten, setzte sich auf den Boden und streckte die Hand aus. »Okay. Gib’s mir.«
Hiroshi zog das Taschenmesser seines Vaters aus der Tasche und legte es ihr zaghaft in die ausgestreckte Hand. Sie umschloss es, machte die Augen zu – und schmunzelte.
»Das hat dir einen ganz schönen Schreck eingejagt«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.
»Was?«, fragte Hiroshi.
»Als das Messer zugeschnappt ist.«
Hiroshi atmete überrascht ein. Wie konnte sie das wissen? Davon hatte er noch nie jemandem erzählt, nicht mal seiner Mutter!
Charlotte schwieg eine Weile, die Augen geschlossen, das Messer fest in der Hand. »Dein Vater stammt aus Texas«, begann sie schließlich. »Aus
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