Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
einer reichen Familie. Sehr reich. Seine Eltern wollten, dass er eine Stelle in der Firma übernimmt, aber das hat ihn nicht interessiert. Er hat für Japan geschwärmt, hat alles darüber gesammelt. Eines Tages ist er nach Japan gekommen, obwohl seine Familie dagegen war, und hat hier studiert.«
Hiroshi betrachtete sie fassungslos. Er wusste nicht, was er denken sollte.
»Er hat erst in einem Wohnheim gelebt«, fuhr sie fort. »Das hat ihm nicht gefallen, weil er dort nur unter anderen Ausländern war, Amerikanern vor allem. Also hat er nach einem Zimmer in der Stadt gesucht, bei Leuten, die an Studenten vermieten. Bei einem Ehepaar hat ihm das Zimmer eigentlich nicht gefallen, weil es sehr dunkel war und nicht schön eingerichtet, aber in dem Moment, als er das sagen wollte, ist ein Mädchen hereingekommen, in das er sich auf der Stelle verliebt hat. So hat er das Zimmer trotzdem genommen.«
»Und wer war das?«, wollte Hiroshi wissen.
»Deine Mutter.«
»Oh.«
»Er war so verliebt, dass er sich nicht mehr um sein Studium gekümmert hat. Er ist in das Reisebüro gegangen, in demdeine Mutter gearbeitet hat, und hat so getan, als sei er ganz überrascht, sie dort zu treffen. In Wirklichkeit ist er ihr nachgeschlichen.«
Hiroshi musste grinsen. Er dachte an das Foto seines Vaters und versuchte ihn sich vorzustellen, wie er durch die Straßen und Gassen Tokios schlich. Bestimmt hatten ihn alle Leute bemerkt!
»Er hat sich ständig überlegt, was er tun kann, um öfter mit deiner Mutter zu reden. Sie war sehr schüchtern, aber sie hat gut Englisch gesprochen. Schließlich hat er die Idee gehabt, sie zu bitten, ihm bei seinem Japanisch-Kurs zu helfen und seine Aussprache zu korrigieren. Das war schwierig, denn sie musste erst ihre Eltern um Erlaubnis fragen. Die haben sich die ersten Male dazugesetzt, im Wohnzimmer, und genau aufgepasst.« Sie hielt inne, kicherte auf einmal.
»Was ist?«
»Dein Vater war ganz schön raffiniert. Nach ein paar Wochen haben deine Großeltern die beiden allein gelassen. Dein Vater hat so getan, als käme eine Lektion dran mit lauter so Sätzen wie ›Ich liebe dich‹ und ›Du bist wunderschön‹ und so weiter.« Sie kicherte immer stärker. »Er hat sich die Sätze von jemandem an der Universität aufschreiben lassen und daraus Kursunterlagen gebastelt, die ausgesehen haben wie die echten. Er hat die Sätze absichtlich falsch ausgesprochen, damit ihn deine Mutter immer wieder korrigieren musste. Sie ist dabei ganz rot geworden, aber sie hat mitgemacht …« Charlotte hielt inne, hörte auf zu kichern, lächelte nur noch. »Am Ende haben sie sich geküsst.«
Hiroshi musterte sie unangenehm berührt. Mädchen gefiel so etwas, das bekam er in der Schule mit, aber er fand Küsse widerlich. Es reichte ihm schon, dass ihn demnächst seine Großeltern wieder abküssen würden.
Allerdings würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als eines Tages trotzdem ein Mädchen zu küssen, sonst konnte er ja nicht heiraten.
»Er wollte deine Mutter heiraten, doch er hat sich nichtgetraut, es zu tun, ohne seine Eltern um Erlaubnis zu fragen. Deswegen wollte er, dass deine Mutter mit ihm nach Amerika kommt. Als er sie das dritte Mal gefragt hat, war sie schließlich einverstanden. Er hat sich aber nicht wirklich gefreut, sondern sich ziemliche Sorgen gemacht wegen seiner Familie.« Charlotte öffnete die Augen wieder und gab ihm das Messer zurück.
»Und weiter?«, wollte Hiroshi wissen.
»Nichts weiter. Danach hat er das Messer nicht mehr bei sich gehabt.«
Hiroshi steckte es ein. »Ich weiß ganz wenig über meinen Vater«, bekannte er. »Ich wusste nicht, dass er aus einer reichen Familie stammt. Eigentlich weiß ich nicht mal, ob er noch lebt.«
»Bestimmt lebt er noch«, meinte Charlotte.
»Meinst du?«
»Klar«, sagte sie, stand auf und klopfte sich den Staub von ihrem Kleid. »Wenn er gestorben wäre, hättest du ja was geerbt.«
An diesem Abend hatte Hiroshis Mutter, als sie von der Arbeit nach Hause kam, so starke Rückenschmerzen, dass sie sich erst mal hinlegen musste. »Heute haben wir die Vorhänge in den beiden großen Salons gewaschen und neu aufgehängt. Das bringt mich immer fast um.«
»Soll ich dir eine Schmerztablette bringen?«, bot Hiroshi an.
»Ach, nein.« Sie klopfte mit der Hand neben sich auf den Futon. »Setz dich lieber zu mir und erzähl mir was. Was du den Tag über so gemacht hast.«
Hiroshi trat unschlüssig näher. »Das interessiert dich doch nie,
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