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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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nicht spielen«, erklärte sie.
    Hiroshi sah auf. »Wieso nicht?«
    »Der Junge, dem das gehört hat, hat Selbstmord begangen.«
    »Echt?«
    »Er war in ein Mädchen verliebt, die nichts von ihm wissen wollte. Er hat sie erpresst; hat ihr gesagt, dass er sich umbringt, wenn sie nicht mit ihm geht, aber sie wollte ihn trotzdem nicht. Da hat er beschlossen, sich vom Dach des Hauses zu stürzen, in dem sie gewohnt hat, und zwar so, dass er genau unter ihrem Fenster auf dem Pflaster aufprallt«, erzählte Charlotte tonlos. »Das hat er sich ausgedacht, und dann ist er losgegangen und hat es getan.«
    Hiroshi sah fasziniert auf den Baukasten hinab, auf all die wunderbaren Teile. Er wusste nicht, ob er sich davor gruseln oder lieber traurig sein sollte, dass er die Sachen wieder aufgeben musste.
    »Wenn ich verliebt wäre, würde ich mich nicht umbringen«, erklärte er.
    »Und wenn sie dich nicht haben will?«, fragte Charlotte.
    Hiroshi schüttelte den Kopf. »Dann würde ich es so lange probieren, bis sie es sich anders überlegt.«
    Beim Abendessen fragte Hiroshi seine Mutter, ob sie etwas über einen Jungen wisse, der einmal im Botschaftsgebäude gelebt und der sich vor dem Haus eines Mädchens umgebracht habe. Von dem Metallbaukasten erzählte er nichts, aber er ließ nichtunerwähnt, dass der Junge direkt unter dem Zimmer des Mädchens aufs Pflaster geschlagen war.
    Seine Mutter musterte ihn befremdet. »Von wem hast du das?«
    »Jemand hat es erzählt«, sagte Hiroshi.
    Sie streckte die Hand aus, ordnete die Schalen mit dem Reis und dem eingelegten Gemüse. »Es ist so etwas passiert, ja. Aber das ist lange her. Da war ich noch nicht hier. Eine der alten Köchinnen hat mir erzählt, dass der Sohn eines Gärtners …« Sie ließ das mit den Schalen. »Er wollte einem Mädchen aus seiner Klasse einen Streich spielen – ihr an einer Schnur etwas vors Fenster hängen, um sie zu erschrecken –, und dabei ist er abgestürzt.« Sie musterte Hiroshi streng. »Lass dir das eine Lehre sein. Man spielt Leuten keine Streiche.«
    Beim nächsten Mal stellte Hiroshi Charlotte zur Rede. Bloß weil sie in einem großen Haus mit Garten lebte, hatte sie noch lange nicht das Recht, ihm Lügengeschichten zu erzählen.
    Er war richtig sauer.
    Sie hörte sich seine Vorhaltungen schweigend an, und als er fertig war, sagte sie: »Das war keine Lügengeschichte. Deine Mutter weiß es nur nicht besser.«
    »Aber du weißt es besser, ja? Das soll ich glauben?«, pflaumte er sie an. »Du bist erst seit ein paar Monaten hier. Meine Mutter lebt hier schon so lange, wie ich auf der Welt bin.«
    Charlotte erwiderte nichts, sah nur zu Boden.
    Sie standen auf dem Rasenstück, auf dem er sie damals in der Nacht gesehen hatte. Sie hatte auf ihn gewartet, nachdem sie die Puppe ins Fenster gesetzt hatte. Es war heiß. Der Gartenschlauch, mit dem der Gärtner am Morgen die Pflanzen gewässert hatte, lag zusammengerollt am Boden. In den Büschen raschelten Vögel auf der Suche nach Futter, und von weit her hörte man das Brummen des Verkehrs. Hinter einem offenen Fenster klingelte ein Telefon.
    »Wenn ich dir ein Geheimnis verrate«, fragte Charlotte, »wirst du es für dich behalten?«
    Hiroshi musterte sie, wie sie da stand. Sie trug ihre Haare heute zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Er merkte, dass er ihr nicht lange böse sein konnte.
    »Okay«, sagte er.
    Sie setzte sich ins Gras und wartete, bis er sich vor sie gesetzt hatte.
    »Ich hab so etwas wie eine besondere Gabe«, erklärte sie ernst. »Früher dachte ich, jeder kann das, aber inzwischen habe ich gemerkt, dass ich wohl die Einzige bin.«
    Hiroshi runzelte die Stirn. Das war jetzt doch auch wieder eine Lügengeschichte, oder? »Eine Gabe? Was für eine Gabe?«
    »Wenn ich Dinge anfasse, dann weiß ich, was mit ihnen passiert ist. Ich weiß, wie alt sie sind, wem sie gehört haben und was das für Leute waren, denen sie gehört haben. Was sie erlebt haben, wovor sie Angst gehabt haben und so weiter.« Sie strich mit der Hand über den Rasen. »Das Gras ist ganz jung. Es gehört niemandem, es hat keine Erinnerung. Aber wenn ich zum Beispiel den Gartenschlauch berühre«, fuhr sie fort, streckte die Hand aus und legte sie auf den zusammengerollten Schlauch, »dann spüre ich den Gärtner. Ich kann spüren, dass er sich Sorgen macht, weil seine Frau krank ist und die Ärzte nicht herausfinden, was sie hat.«
    Hiroshi dachte nach. Er dachte an das, was er in all den Büchern gelesen hatte,

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