Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Wirklichkeit ist das nur ein verkleideter Schauspieler.« Hiroshi deutete auf den anderen Roboter, der, in den der Blitz einschlug. »Das ist Nummer 5, der ist viel interessanter. Das ist ein richtiger Roboter. Eigentlich ist er ein Militärroboter, aber nachdem ihn ein Blitz getroffen hat, wird er friedliebend, und deshalb jagen sie ihn. Er kann tolle Sachen, zum Beispiel kann er ein Buch innerhalb von einer Minute durchlesen. Er macht nur so« – Hiroshi deutete eine rasend schnelle Blätterbewegung an – »und schon hat er alles gespeichert, was in dem Buch steht.«
»Ich darf solche Filme nicht anschauen«, bekannte Charlotte. »Meine Mutter sagt, dafür bin ich noch zu jung.«
»Den hab ich sogar im Kino gesehen«, sagte Hiroshi. »Wenn ich eine gute Note in Englisch habe, geht meine Mutter manchmal mit mir in ein Kino drüben in Shinagawa, das amerikanische Filme auf Englisch zeigt. Dort hab ich den gesehen. War ziemlich lustig.« Er ging vor seinem Regal in die Hocke, durchsuchte einen Stapel von Papieren und hielt ihr dann einen Prospekt vor die Nase, auf dem zwischen lauter grellbunten japanischen Schriftzeichen ein klobiger Spielzeugroboter mit halbkugeligem Kopf und dicken Greifarmen zu sehen war.»So einen hätte ich gern. Das ist ein Omnibot. Der kann Sachen herumtragen und einem Getränke eingießen und so. Aber leider kostet der fünfzigtausend Yen, das kann ich mir nicht leisten.«
»Was würdest du denn damit machen?«, wollte Charlotte wissen.
»Ich würde ihn natürlich ausbauen, damit er noch mehr kann. Er müsste ein richtiger mechanischer Diener werden.«
Diese Idee faszinierte ihn offenbar über alle Maßen. Seltsam, fand Charlotte. Aber sie hatte Jungs eigentlich schon immer seltsam gefunden. »Du könntest mir übrigens etwas zu trinken anbieten«, meinte sie. »Das macht man so, wenn man eine Dame zu Besuch hat.«
»Ah«, meinte Hiroshi. Er eilte zum Kühlschrank und holte eine Dose Cola, die er ihr reichte. »Bitte.«
Charlotte hatte in Wirklichkeit gar keine Lust, etwas zu trinken, und Cola mochte sie auch nicht besonders, aber jetzt gab es ja wohl kein Zurück mehr. Sie trank in kleinen Schlucken und sah sich weiter um. Wie winzig alles war! Es gab noch eine Schiebetür. Charlotte fragte sich, wohin sie führen mochte. Wahrscheinlich in ein Badezimmer.
»Wir könnten ein Zeichen ausmachen«, schlug sie vor.
»Was für ein Zeichen?«
»Wenn meine Mutter nicht da ist. Sie geht manchmal nachmittags weg.«
»Und dein Vater?«
»Der arbeitet eigentlich immer. Außerdem wäre es dem, glaube ich, egal, ob du kommst.« Charlotte ging ans Fenster. »Siehst du mein Zimmerfenster? Das mit dem gelben Vorhang? Wenn die Luft rein ist, stell ich die Puppe, die du repariert hast, hinter die Scheibe.«
»Okay«, sagte Hiroshi.
Sie gab ihm die noch halb volle Dose. »Ich geh jetzt, glaub ich, besser wieder zurück, bevor jemand merkt, dass ich weg war.«
Zwei Tage später fragte ihre Mutter, ob Charlotte mit in die Stadt wolle, einkaufen und ein wenig Eis essen und so weiter. »Du könntest noch ein Kleid brauchen für den Sommer.«
»Gehen wir auch in ein Museum?«, fragte Charlotte.
Mutter verdrehte die Augen. »Nein, ganz bestimmt nicht. Wir gehen in ein funkelnagelneues Einkaufszentrum. «
»Dann hab ich keine Lust.«
Später verfolgte Charlotte von einem der Fenster im obersten Stock aus, wie Mutter zusammen mit Madame Chadal und einer Übersetzerin ins Auto stieg und zum Haupttor hinausfuhr. Sobald der Wagen außer Sicht war, rannte sie in ihr Zimmer und stellte Valérie ins Fenster.
Hiroshi kam keine Viertelstunde später.
»Ich hab mir was ausgedacht«, erzählte er und holte ein dunkles, schwer aussehendes Stück Metall aus der Hosentasche. Ein Magnet, wie sich herausstellte – er war so stark, dass man damit Büroklammern auf Charlottes Schreibtisch herumwandern lassen konnte, indem man ihn unter die Tischplatte hielt. »Ich hab heute gelesen, dass in menschlichem Blut Eisen enthalten ist. Wusstest du das? Da gibt es was, das Hämoglobin heißt. Das ist das, was das Blut rot aussehen lässt, und darin ist Eisen enthalten.«
»Ehrlich?«, wunderte sich Charlotte und musterte ihre Hände. »Eisen?«
»Ja, ganz wenig natürlich, sonst würde der Magnet ja an dir festkleben. Aber ich hab mir gedacht, man müsste das Hämoglobin festhalten können, wenn man einen Magneten auf eine Blutbahn hält.« Er legte seinen linken Unterarm auf den Schreibtisch, die Innenseite mit den
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