Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
»Das ist die ›Insel der Heiligen‹. Man sagt, dass auf dieser Insel die Überreste zweier Jinin begraben sind, die hier vor tausend Jahren Wunder bewirkt –«
»Nein, ich meine das Messer!« Charlotte packte Yumiko am Ärmel und zog sie zu einer Tafel, die aussah, als stünde darauf eine Erklärung zu dem, was man sah – leider nur auf Japanisch. »Lies vor. Steht da was über das Messer?«
Yumiko studierte den Text. »Hmm. Das ist ein Dolch aus Kokuyōseki . Er stammt aus dem Besitz von Jimmu, dem allerersten Kaiser, und ist wahrscheinlich vor dreitausend Jahren in Honshu hergestellt worden.«
Charlotte starrte auf das Messer. »Was ist Kokuyōseki? « Sie kannte das japanische Wort für Obsidian nicht, wobei ihr auch das französische Wort dafür – obsidienne – nichts gesagt hätte.
»Eine besondere Art Stein, glaube ich«, sagte Yumiko zögernd. »So wie Marmor, nur eben schwarz.«
Charlotte blickte das Messer an und spürte, dass sie von dieser Erklärung enttäuscht war. Diese Erklärung war viel zu … klein für dieses Ding, das ihre Blicke magnetisch anzog. Seit sie das Messer auf dem Altar entdeckt hatte, konnte sie sich nicht mehr davon lösen, konnte sich für nichts anderes interessieren, musste immer wieder hierher zurückkehren, als sei dies der einzige Punkt im gesamten Tempel, den zu betrachten sich lohnte.
Sie ließ sich mitziehen, als es weiterging, schaute aber immer wieder zurück. Sie musste über den Wassergraben zwischen dem gepflasterten Hof und dem Altar nachdenken, darüber, wie breit er wohl sein mochte und wie tief und ob man hindurchwaten konnte.
»Was hast du denn?«, wollte Hiroshi wissen. Sie sagte nichts. Sie wusste nicht, wie sie ihm das hätte erklären können. Jedes Mal, wenn sie zurückblickte, war ihr, als erwidere das schwarz schimmernde Messer ihren Blick – als wäre das Messer hinter dem Wassergraben ein wildes Tier in einem Zoo.
Schließlich ergab sich doch noch eine Gelegenheit. Yumiko gab zu verstehen, dass sie kurz zu den Toiletten gehen würde, die sich im Eingangsbereich befanden, und ermahnte Hiroshi und Charlotte, auf sie zu warten.
»Oder vorne bei der Insel?«, schlug Charlotte sofort vor. »Dort ist es viel schöner.«
»Also gut, bei der Insel«, gab Yumiko nach, gutmütig, wie sie war, und ging eilig davon.
Charlotte wandte sich sofort an Hiroshi. »Schnell«, flüsterte sie. »Hilf mir. Ich will das Messer anfassen!«
Hiroshi musterte sie verdutzt. »Was für ein Messer?«
»Komm!« Charlotte nahm ihn bei der Hand und zog ihn zurück zur ›Insel der Heiligen‹, vor die Stirnseite, wo sie nur der Wassergraben von dem Altar trennte.
Wie durch ein Wunder war gerade weit und breit niemand zu sehen, obwohl der Schrein gut besucht war.
»Halt meine Hand fest«, verlangte sie und streckte Hiroshi die Linke hin, während sie an den Rand des Grabens trat. »Dann kann ich mich vorbeugen und hinüberlangen.«
Hiroshi gehorchte, packte ihre linke Hand und hielt sie, indem er sich mit den Füßen gegen die kaum einen Zentimeter hohe Umrandung des Vorplatzes stemmte.
Charlotte setzte die Füße aufgeregt tiefer und tiefer, bis ihre Schuhspitzen das Wasser des künstlichen Sees berührten. Dann ließ sie sich nach vorn kippen, gehalten von Hiroshi, die rechte Hand so weit ausgestreckt wie nur irgend möglich. Ihr Herz schlug wie eine Trommel. Sie wusste nicht, warum, aber sie musste dieses Messer anfassen, dieses unglaubliche, verlockende, magnetische Messer auf dem Altar der heiligen Insel.
Doch obwohl sie den Arm reckte, als wolle sie ihn länger machen, und die Finger ausstreckte, so weit es ging, reichte es noch nicht.
»Weiter!«, ächzte sie. »Lass mich weiter runter!«
Hiroshi keuchte, sein Griff begann sich zu lockern. »Ich weiß nicht. Ich kann dich kaum noch halten!«
Charlotte starrte das Messer an und die paar Zentimeter, die ihre Fingerspitzen davon entfernt waren.
»Komm!«, rief sie. »Nur noch ein bisschen!«Hiroshis Mutter bekam es natürlich gleich in den falschen Hals, als er ihr sagte, dass er mit Charlotte ins Museum fahren würde. »Siehst du?«, hielt sie ihm vor. »Schon kommandiert sie dich.«
Obwohl Hiroshi durchaus das Gefühl hatte, dass Charlotte das getan hatte, erwiderte er: »Tut sie nicht. Sie will eben, dass ich mitkomme. Weil wir befreundet sind. Und sie hat ja sonst niemanden in Tokio.«
Worauf seine Mutter schwieg und sich damit begnügte, intensive Missbilligung auszustrahlen.
»Außerdem«, fuhr
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