Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
sind deine Eltern?«, fragte Hiroshi, während er sich unsicher setzte.
»Ach, auf einem Empfang bei irgendeiner anderen Botschaft. Argentinien oder Chile oder so, was weiß ich. Hier, damit musst du anfangen.« Sie schob ihm einen Teller hin, auf dem etwas Salat mit fein geschnittenen geschälten Orangen, einer Scheibe dunklen Schinkens und einer hellroten Soße angerichtet war.
Es schmeckte fremd, aber unwirklich gut. Während er aß und aß und es kaum fassen konnte, wie gut das war, kroch ein hässliches, beklemmendes Gefühl in ihm hoch, von dem er noch nicht wusste, dass es Neid war, schlichter, einfacher Neid, dass Charlotte jeden Abend so etwas Gutes zu essen bekam und er nicht und dass er auch gerne immer so köstlich zu Abend essen würde.
Dann fiel ihm wieder ein, dass er jetzt ja wusste, wie man es machen musste, damit alle Menschen reich sein konnten, auch er. Der Gedanke erfüllte ihn mit heiterer Zuversicht. Er war gespannt, was Charlotte für ein Gesicht machen würde, wenn er es ihr erklärte.
»Wenn du satt bist, können wir noch rausgehen und ein bisschen schaukeln«, meinte sie gerade, während er noch überlegte, wie er es ihr am besten erklären konnte. »Es ist heute herrlich draußen!«
»Okay«, sagte Hiroshi, schob den geleerten Teller beiseite und griff nach dem nächsten. »Aber erst, wenn ich satt bin.«
Er aß alles auf. Er konnte nicht anders, es war einfach zu gut. Nachher hockte er matt auf der Schaukel und sah ihr zu, wiesie sich höher und höher schwang. Er versuchte, ihr zu erklären, was er sich ausgedacht hatte, aber sie hörte kaum zu, wollte nur, dass er ebenfalls schaukelte. Sie wollte gar nicht wissen, was für eine Idee er gehabt hatte, sondern meinte gleich, das ginge nicht, dass alle Menschen reich seien.
Er verstand, dass sie das dachte; dasselbe hatte er ja bis gestern auch noch gedacht. Aber es war eben nicht so. Es gab eine Lösung, und er wollte gerade ansetzen, sie ihr zu erklären, als ihm etwas klar wurde, über das er bis zu diesem Moment nicht nachgedacht hatte: Seine Idee war einfach, geradezu kinderleicht. Wenn er es ihr erklärte, würde sie es weitersagen, ihrem Vater vielleicht, und der würde es bestimmt auch weitersagen, und dann? Auf einen Botschafter hörte man eher als auf einen zehnjährigen japanischen Jungen, und einem Botschafter trauten die Leute auch mehr zu. Die Idee würde sich selbstständig machen, und niemand würde je erfahren oder glauben, dass es am Anfang seine Idee gewesen war. Dass er es war, der die Lösung gefunden hatte.
Mit der Plötzlichkeit eines Blitzschlags wurde Hiroshi klar, dass er seine Idee selber verwirklichen musste. Und dass er, bis es so weit war, darüber schweigen musste.
Und seltsam … Genau in dem Moment, in dem er diesen Entschluss fasste, schien Charlottes Interesse zu erwachen. »Wie willst du das denn machen?«, rief sie, während sie immer wilder schaukelte.
»Verrat ich nicht«, gab Hiroshi zurück.
»Weil du’s nicht weißt. Weil du bloß angeben willst.«
Hiroshi schwang den Oberkörper nach hinten, stieß die Beine in die Höhe, um noch mehr Schwung zu bekommen. Sie hatte ja keine Ahnung. Niemand hatte eine Ahnung. Nur er. »Wart’s ab«, rief er und machte sich bereit zu springen. Von der Schaukel zu springen, einfach loszulassen und durch die Luft zu fliegen, das war immer noch das Größte!
So sprach er nicht mehr über seine Idee, den ganzen Abend nicht, zumal Charlotte auch nicht wieder davon anfing. Aber alses dunkel wurde und er wieder nach Hause kam, holte er, nachdem er die Standpauke seiner Mutter über sich hatte ergehen lassen, das Masters-of-the-Universe -Notizbuch hervor. Endlich wusste er, was er hineinschreiben würde.
5
Das Erste, was Charlotte tat, nachdem sie es erfahren hatte, war, in ihr Zimmer zu rennen und Valérie ins Fenster zu stellen. Dann rannte sie gleich weiter in den Garten und zu der Stelle, an der Hiroshi über den Zaun klettern würde.
Es dauerte eine ewige Viertelstunde, bis sein Kopf über der Mauer auftauchte. »Oh, du bist hier«, meinte er überrascht, als er sie sah.
»Morgen fahren wir ins Museum«, erklärte sie ihm aufgeregt. »Und du musst unbedingt mitkommen!«
Er runzelte die Stirn. »In was für ein Museum?«
»Das Seitou-Jinjya . Die ›Insel der Heiligen‹. Morgen ist der letzte offene Tag in diesem Jahr, und Yumiko geht mit mir. Meine Mutter will nicht. Das heißt, du kannst mitkommen.«
Hiroshi zögerte. »Ich weiß nicht. Wir
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