Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
fliegen doch in zwei Tagen zu meinen Großeltern; ich weiß nicht, ob ich da noch mal fort darf.«
»In zwei Tagen!« Hiroshi machte sich immer viel zu viele Gedanken, fand Charlotte. Alle Menschen reich machen wollte er, aber ins Museum zu gehen war ein Problem. »Sei einfach morgen um neun am Haupteingang«, sagte sie und rannte davon.
Natürlich stand er am nächsten Morgen da, als Yumiko und sie das Tor passierten. Charlotte hatte ihre Mutter überzeugen können, dass es kein Problem war, wenn sie mit der S-Bahn fuhren anstatt mit dieser langweiligen Limousine. Allerdings war es nötig gewesen, dass Papa ihr beisprang und erklärte, Tokio sei im Grunde eine sichere Stadt; man werde Charlotte und Yumikoschon nicht entführen. Und dass gerade sie als Botschafter die Pflicht hätten, Vertrauen in die japanischen Ordnungskräfte zu demonstrieren.
Es war aufregend! Charlotte war noch nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Tokio gefahren und nie so weit weg von zu Hause gewesen. Was U-Bahnen und dergleichen anbelangte, kannte sie eigentlich nur die Pariser Metro. In Delhi war zwar darüber diskutiert worden, eine Metro zu bauen, herumgefahren waren aber nur ziemlich unappetitliche Busse, die zu benutzen Charlotte keine Lust gehabt hätte.
Und nun diese Untergrundstation! Hiroo Station hieß sie und war viel sauberer als die Metro in Paris. Entlang des Bahnsteigs verlief am Boden ein gelb genoppter Streifen, an dem man stehen bleiben musste, wenn man auf die U-Bahn wartete. Darauf bestand Yumiko streng.
Ein kantiger silbergrauer Zug mit roten Streifen kam hereingefahren und hielt. Anders als in Paris gingen die Türen von selber auf. Viele Leute stiegen aus und ein, sie bekamen keinen Sitzplatz. »Haltet euch gut fest«, ordnete Yumiko an.
Etliche der Leute, die einen Sitzplatz hatten, schliefen; manche sanken fast auf ihre Nachbarn nieder. Dann, als der Zug in die nächste Station einfuhr, schreckten einige hoch, standen hastig auf und verließen den Wagen: Dabei wirkten sie, als machten sie das jeden Tag so.
Sie mussten ein paar Mal umsteigen, ehe sie wieder an die Oberfläche kamen. Dort ging es mit einem grünen Bus weiter, dessen Sitze mit Stoff voller seltsamer Comic-Figuren bezogen waren. Man musste hinten einsteigen, ein Ticket aus einem Automaten ziehen und gut aufbewahren, weil man nämlich erst beim Aussteigen bezahlte.
Sie fuhren lange. Erst kurvte der Bus durch enge Gassen, die nicht viel anders aussahen als die Gassen rings um die Botschaft, dann ging es ein Stück über eine Schnellstraße. Irgendwann tauchten die ersten Gärten, Bäume und Wiesen entlang der Straße auf.
Schließlich stiegen sie aus. Sie gingen durch ein hölzernes Tor, das von zwei fauchenden Löwen aus grauem, stumpfem Stein bewacht wurde. Eine sehr flache Treppe führte bergauf, zwischen Büschen und Bäumen hindurch. Sie gelangten auf einen Platz, auf dem viele Menschen herumstanden und irgendwie feierlich wirkten. Vor dem eigentlichen Eingang, einem weiteren Tor, mussten sie sich tief verneigen, danach traten sie an ein Wasserbecken, an dem man sich wusch: zuerst die linke Hand, dann die rechte, dann den Mund ausspülen.
Die ›Insel der Heiligen‹ war zu Charlottes Überraschung nur ein winziger Teil der Tempelanlage. Zwei Reihen dicker Säulen aus fast schwarzem Holz trugen ein klobiges Dach, darunter lag ein künstlicher, rechteckiger See, kaum größer als ihr Kinderzimmer. In diesem See hatte man eine Insel aufgeschüttet, die ganz mit feinem weißem Kies bedeckt war. Von der Stirnseite des Sees blickte man über die Insel hinweg auf einen Bereich des Tempelgartens, den man nicht betreten durfte. Dort waren bemooste Steine, hellgrüner Bambus und winzige Bäume, die wirkten, als hätten unablässig wehende Winde sie gebeugt, zu einer bezaubernden Landschaft angeordnet. Kniff man die Augen ein bisschen zu, konnte man sich vorstellen, man sei ein Riese und schaue auf eine menschenleere Welt hinab.
Jemand hatte den Kies auf der Insel zu sanften Mustern gerecht, die aussahen, als gingen versteinerte Wellen von einem kleinen Altar aus, der an der Stirnseite der Insel stand. Er war aus hellbraunem Holz, das matt und müde glänzte, Bambus vielleicht und viele Jahrhunderte alt. Mehrere Gegenstände lagen darauf, darunter ein schartiges, nachtschwarzes, gefährlich glänzendes Messer.
Es war dieses Messer, dessen Anblick Charlotte den Atem verschlug.
»Was ist das?«, fragte sie Yumiko.
Yumiko lächelte gutmütig.
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