Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
auch nicht. Dummheit!«, befand sie und schüttelte missbilligend den Kopf. »Das ist, weil sie eingebildet sind. Sie glauben, sie würden es nicht ertragen, zwei Stunden mit normalen Menschen zusammen sein zu müssen.«
Um zehn Uhr landeten sie in Kagoshima und nahmen den Zug bis nach Minamata, wo die Großeltern sie am Bahnhof erwarteten. Hiroshi war noch so erfüllt vom Anblick der gewaltigen Wolken und der winzigen Landschaft in der Tiefe, dass er die obligatorische Begrüßung mit Küssen und den Sprüchen, wie sehr er gewachsen sei, problemlos über sich ergehen lassen konnte. Vielleicht würde es ja doch nicht ganz schlecht werden.
Beim Abendessen war Doktor Suzuki zu Gast, der Tante Kumiko seit Jahren behandelte. Inzwischen gehörte er quasi zur Familie. Er trank viel Sake und wurde nicht müde zu betonen, wie großartig es sei, dass Tante Kumiko so lange durchgehalten habe, vor allem angesichts der Schwere ihrer Erkrankung.
Hiroshi sank währenddessen in sich zusammen und konzentrierte sich auf das Essen. Er wollte das nicht hören. Er konnte nichts Großartiges daran finden, sein Leben lang krank zu sein, im Bett herumzuliegen, in die Hose zu pinkeln und zu schreien, als jagten einen tausend Dämonen. Er fand es gruselig, dass so etwas möglich war: dass die kleinsten Teilchen der Materie, die Atome, so etwas in einem Menschen anrichten konnten. Dass Tante Kumiko dieses Schicksal ereilt hatte, weil sie gerne Fisch gegessen und weil dieser Fisch mehr Quecksilberatome enthalten hatte, als gut gewesen wären. Ein paar falsche Atome am falschen Ort, und schon konnte es passieren, dass man Zuckungen bekam und alles vergaß, was man je gewusst hatte: Wenn das nicht grauenhaft war, was dann? Und es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Atome waren zu klein, als dass man sie sehen konnte. Er hatte viel darüber gelesen. Man konnte Quecksilber sogar einatmen, ohne es zu merken. Und das war nicht die einzige Sorte Atome, die einem gefährlich werden konnten; es gab einen ganzen Zoo davon – Kadmium, Plutonium, Arsen, Natrium, Chlor und noch viele mehr.
Am nächsten Tag überwand er sich und ging doch einmal zu Tante Kumiko ins Zimmer. Sie schrie nicht mehr, lag nur noch da, und als er an ihr Bett trat, tat sie etwas, das sie schon ewig nicht mehr getan hatte: Sie drehte den Kopf, als wolle sie ihnansehen. Aber ihr Blick ging irgendwohin; vielleicht war es nur eine zufällige Bewegung gewesen. Hiroshi blieb so lange, bis das gruselige Gefühl nachließ und sie anfing, ihm leid zu tun.
Anschließend stahl er sich aus dem Haus und streunte durch die Gegend, suchte die Plätze, wo er früher, als kleines Kind, in den Ferien gespielt hatte. Die meisten fand er nicht mehr, so sehr hatte sich die Stadt verändert, und die, die er fand, hätten sich nicht mehr als Spielplatz geeignet. Ein Bach, an dem er einmal zusammen mit einem Jungen aus der Nachbarschaft einen Damm aus Lehm gebaut hatte, war völlig zugeschüttet worden, und nun stand ein Supermarkt genau darüber. Es war ein trauriger Anblick.
Er musste immer wieder an Charlotte denken und an den Schrei, den sie im Schrein ausgestoßen hatte. Sie hatte in dem Moment geklungen wie Tante Kumiko früher, genauso entsetzt: Man hatte das Gefühl gehabt, sie blicke in einen Abgrund voller Dämonen. Genauso hatte sie geschrien.
Hiroshi hätte gern gewusst, was das zu bedeuten hatte. Was Charlotte gesehen hatte, als sie den Dolch aus Obsidian berührt hatte.
Vielleicht war es gar nicht möglich, das jemand anderem zu erzählen. Vielleicht hatte sie deshalb geschwiegen.
Einen Moment durchzuckte ihn die Angst, Charlotte könnte genauso enden wie Tante Kumiko. Dann dachte er schnell an etwas anderes.
Die nächsten Tage hielt sie das Totenfest beschäftigt. Hiroshi bekam wie immer die Aufgabe, Namensschilder für die Ahnen zu schreiben, all die toten Vorfahren, an die man sich erinnerte und für die man überall im Haus Teller aufstellte. Die Frauen standen in der Küche und bereiteten kleine Leckerbissen, die Lieblingsspeisen der Toten, soweit man darüber noch Bescheid wusste. Sie verteilten sie auf die Teller als Willkommensgruß für die Geister der Toten. Das ganze Haus duftete köstlich, und Hiroshi hörte eine Menge Anekdoten, von denen er manche noch nicht kannte.
Dann gingen sie zu den Bondori und verfolgten die Tänze, mit denen die Geister wohlwollend gestimmt werden sollten. Am letzten Abend wanderten sie, wie alle, hinunter an den Fluss, um aus Papier
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