Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
was für Probleme es seinem Vater bereitete, sich neue Dinge einzuprägen, Zusammenhänge zu erfassen, ungeläufige Bewegungen zu erlernen. Vater war, man konnte es nicht anders sagen, schwerfällig. Unbeholfen. Aber zugleich war er immer sehr um Hiroshi bemüht. Er interessierte sich für ihn, wie sich nach Hiroshis Beobachtungen kaum ein japanischer Vater für seinen Sohn interessierte. Das war so ungewohnt, so wohltuend, so anrührend, dass Hiroshi keiner dieser Abende je zu viel wurde.
Hiroshi merkte überdies, dass er selber alles andere als ein guter Lehrer war. Vieles von dem, was sein Vater wissen wollte, war ihm selbst nicht klar. Wann verwendete man ein Kanji-, wann Hiragana-, wann Katakana-Zeichen? Warum dieses Wort so, jenes aber nicht? Das wusste er auch nicht. Es war eben so. Gewohnheit. Sobald man versuchte, eine Regel aufzustellen, stieß man unter Garantie im nächsten Moment auf eine Ausnahme davon.
Tatsächlich erschien Hiroshi das lateinische Alphabet, mitdem er es ja von nun an zu tun haben würde, wesentlich logischer. Verglichen mit der asiatischen Praxis, Worte aus immer weiter und weiter vereinfachten Bildern abzuleiten, die unter einander keinerlei Zusammenhang hatten und längst so abstrakt geworden waren, dass man ohnehin nichts mehr darin erkannte, kam ihm die abendländische Methode, die Worte aus einzelnen, gewissermaßen atomaren Teilen aufzubauen, wie das überlegenere Konstruktionsprinzip vor.
Noch besser freilich gefiel ihm, wie Computer Informationen darstellten. Sie kamen mit ganzen zwei verschiedenen Zuständen aus, die gar keiner besonderen Symbole mehr bedurften: Ob man 1 und 0 dazu sagte, AN und AUS oder HIGH und LOW, das spielte keine Rolle. Das war der fundamentalste denkbare Ansatz und, wie man sah, deswegen auch der mächtigste, denn damit ließ sich buchstäblich alles darstellen – nicht nur Worte, sondern auch Klänge, Bilder, Filme und so weiter.
Nach und nach lernte Hiroshi die Nachbarn in der Straße kennen, in der sie wohnten. Vater platzte jedes Mal fast vor Stolz, wenn er ihn vorstellen konnte mit: »Das ist mein Sohn.« Das Amüsante daran war, wie sehr er sich dabei immer bemühte, nicht so zu wirken, als platze er vor Stolz, und wie schlecht es ihm gelang.
Warum er ausgerechnet hierher gezogen sei, fragte Hiroshi ihn eines Abends über den Pinseln. Was hatte Alexandria, Louisiana, was andere Städte nicht hatten?
Vater nickte bedächtig, legte den Pinsel behutsam ab und musste eine Weile nachdenken, bevor er antwortete. »Nach meiner Operation«, begann er schließlich, »war, sagen wir mal, wenig los mit mir. So gut wie nichts. Mein Vater nannte mich nur ›den Blumenkohl‹, und die Ärzte hatten mich aufgegeben.« Er faltete die Hände im Schoß, starrte auf einen Punkt mitten auf dem Tisch. »Aber es gab eine Therapeutin, die mich nicht aufgegeben hat. Die immer wieder gekommen ist, jeden Tag, lange, lange Zeit über … bis ich endlich doch angefangen habe, ein paar Fortschritte zu machen.«
Hiroshi sah ihn an, den Tuschpinsel reglos in der Hand. »Was für Fortschritte?«
»Fortschritte, wie wieder einmal ein Wort von mir zu geben, das man verstehen konnte. Nach etwas zu greifen, das man mir in die Hand gedrückt hat. Diese Art von Fortschritten.«
»Oh«, entfuhr es Hiroshi.
Vater grinste schief. »Ehrlich gesagt weiß ich das bloß, weil sie es mir später erzählt hat. Es hat eine Weile gedauert, bis meine Erinnerungen zurückgekommen sind, aber nach und nach habe ich mein Leben wieder zusammengesetzt, dank ihrer Hilfe. Und gerade als ich dachte, vielleicht wird das doch wieder was mit mir, kommt sie an und sagt, sie wird heiraten und fortziehen und es täte ihr so leid.«
»Oh«, machte Hiroshi noch mal. »Und dann?«
»Ich habe gesagt, wohin ziehen Sie? Nach Alexandria, sagt sie, dort arbeitet mein zukünftiger Mann. Gut, habe ich gesagt, dann ziehe ich auch nach Alexandria.« Er sah Hiroshi an und zuckte mit den Schultern. »Und deshalb bin ich hier.«
»Aber dann warst du doch schon ziemlich fit, wenn du hierherziehen konntest«, meinte Hiroshi.
»Nein, nein. Die ersten zwei Jahre habe ich noch einen Pflegedienst gebraucht, und danach noch zwei Jahre eine Haushälterin, ehe ich so weit war.« Er gab einen Laut tiefster Zufriedenheit von sich. »Aber das war gut so. Ich bin heilfroh, dass ich weg bin von meiner Familie.«
Hiroshi nickte erschaudernd. »Meine Mutter hat mir erzählt, was damals passiert ist. Dass dein Vater –« Er
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