Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Situation. Wie geht man um mit einem Vater, den man immer für tot gehalten hat und der dann unversehens am Esstisch sitzt und aussieht wie ein missglücktes medizinisches Experiment? Hiroshi schüttelte ihm beklommen die Hand und sagte: »Hello, nice to meet you.« Zum ersten Mal wünschte er sich, er hätte sich dem Englischunterricht mit wenigstens halb so viel Eifer gewidmet wie der Informatik, der Physik und all dem anderen wissenschaftlichen Zeug.
Sein Vater erklärte in mühsamem, kaum zu verstehendem Japanisch, dass seine Sprachkenntnisse schon einmal besser gewesen seien, aber leider … Dann sagte Mutter: »John, sprich ruhig Englisch mit ihm. Damit er endlich begreift, warum ich immer wollte, dass er es gut lernt.«
Also wechselte John Maynard Leak zur allgemeinen Erleichterung in seine Muttersprache, um zu erzählen, wie es ihm ergangen war.
Er habe sich, erzählte er an Hiroshi gewandt, schließlich doch noch von der Hirnoperation erholt, obwohl die Ärzte nicht mehr damit gerechnet hatten. Einige Jahre lang sei er hilflos und auf ständige Betreuung angewiesen gewesen. Dann habe er dank einer engagierten Therapeutin wieder genug Selbstständigkeit erlangt, um heute ganz allein leben zu können, weitab vom Stammsitz der Familie, mit der er kaum noch zu tun hatte. Sein Vater war inzwischen gestorben, und seine Geschwister hatten darauf bestanden, ihn auszubezahlen und die Firma alleine weiterzuführen.
»Ich wollte mit der Firma sowieso nie was zu tun haben«, erklärte er mit einer wegwerfenden Handbewegung, mit der er ums Haar sein Trinkglas vom Tisch gefegt hätte. »Sollen sie sich damit herumärgern und Milliardäre spielen, mir ist das so was von gleichgültig. Sie denken, sie sind billig davongekommen, aber ich habe alles, was ich brauche, und in Wirklichkeit, glaube ich, bin ich es, der davongekommen ist.«
Er sei, fuhr er fort, immer noch in Behandlung, müsse Medikamente nehmen, Therapien machen und so weiter … aber immerhin sei er fit genug gewesen, die Reise nach Japan zu unternehmen. Darauf war er spürbar stolz, und in diesem Moment, in dem Hiroshi spürte, wie sein Vater sich freute, es bis zu ihnen geschafft zu haben, empfand er zum ersten Mal so etwas wie Zuneigung zu dem großen, ungeschlachten Mann. Die verquollenen Gesichtszüge, sagte er sich, kamen bestimmt von den Medikamenten, die er nehmen musste, die Narben am Kopf von der schweren Hirnoperation … Wenn man das alleswegdachte und sich etwas Mühe gab, konnte man darunter den Mann wiederfinden, den Hiroshi von den Fotos kannte.
»Und gekommen bin ich«, fuhr dieser Vater fort und sah dabei Hiroshis Mutter an, als sage er nun etwas, das auch ihr neu war, »um Hiroshi anzubieten, in die USA zu kommen, damit er die bestmögliche Ausbildung erhält, die es gibt.«
Mutters Gesicht verschloss sich. »Was stimmt nicht mit seiner Ausbildung hier?«
Vater schüttelte sanft den Kopf. »Ich spreche von einem späteren Studium. Er könnte ans MIT gehen, nach Stanford, nach Yale, ans CalTech … Das sind die besten Universitäten der Welt.«
Hiroshi schnappte nach Luft, unfähig, auch nur einen Ton zu sagen. Ihm war, als stünde er vor einem Tor, das gerade im Begriff war, sich weit zu öffnen, unermesslich weit …
»Wozu?«, fragte seine Mutter scharf. »Es gibt auch in Japan hervorragende Universitäten, und auf die kann es Hiroshi durchaus schaffen, wenn er sich genug Mühe gibt.«
»Ja, sicher«, meinte Vater friedfertig und faltete die Hände in einer besänftigenden Geste. »Aber sieh es doch mal so: Ich habe nie für meinen Sohn da sein können. Wenn ich ihm wenigstens ein Studium ermöglichen könnte, wäre mein Geld endlich zu etwas gut …« Er beugte sich vor. »Und wie gesagt, am liebsten wäre mir natürlich, ihr kämt beide herüber!«
Darüber hatten sie ganz offensichtlich schon gesprochen, ehe Hiroshi nach Hause gekommen war, denn Mutter erwiderte sofort heftig: »Nein! Wie oft soll ich das noch sagen? Mir hat einmal gereicht.«
»Es würde nicht mehr so sein wie damals. Nicht annähernd.«
»Ich gehöre hierher. Damals habe ich das noch nicht gewusst, aber inzwischen weiß ich es.«
Jetzt erst fiel Hiroshi auf, was an dem plötzlichen Auftauchen seines Vaters so seltsam war. »Mutter«, fragte er dazwischen, »wie hat er uns eigentlich gefunden?«
Mithilfe eines großen, international arbeitenden Detektivbüros, das sein Vater beauftragt hatte, erfuhr Hiroshi, und es warnicht schwierig gewesen. Außerdem
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