Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
essen versuchte.
»Du hast jetzt bis zum Herbst Zeit, ehe die Highschool losgeht«, erklärte sein Vater ihm. »Bis dahin musst du dich eingewöhnt haben.«
»Ich weiß«, sagte Hiroshi und betrachtete sein Glas. Er hatte eine mittlere Cola bestellt, was, wie sich herausstellte, eine Menge von mehr als einem halben Liter bedeutete.
Wahrhaft ein gewöhnungsbedürftiges Land!
Sein Vater bewohnte ein unscheinbares, aber ziemlich großes Haus in einer ruhigen Seitenstraße. Er hatte ein Zimmer für Hiroshi vorbereitet, das mehr Grundfläche hatte als ihre Wohnung in Tokio; es war der einzige Raum des Hauses, in dem kein japanisches Möbelstück, kein Tuschbild und kein Reispapier-Wandschirm stand. Stattdessen hingen Fotos an den Wänden, die Cowboys beim Zureiten von Wildpferden zeigten, die Skylines großer Städte oder den nächtlichen Start eines Space Shuttles. Auf einem Regal lagen ein blaugrüner Basketball, ein Baseball-Handschuh, der zugehörige Schläger und noch ein paar Dinge, die wohl mit irgendwelchen Sportarten zu tun hatten, die Hiroshi nicht auf Anhieb zuordnen konnte.
»Damit du dich besser eingewöhnst«, erklärte sein Vater ihm.
Am gewöhnungsbedürftigsten war das unglaublich weiche Bett. Hiroshi, der sein Leben lang auf einem futon geschlafen hatte, hatte das Gefühl, darin zu versinken. Als Mitternacht vorüber war und er immer noch keine Minute geschlafen hatte, zoger mit seiner Bettdecke auf den Teppich um: Erst dort schlief er, völlig durcheinander von seinem langen Flug, endlich ein.
In den nächsten Tagen versuchte Hiroshi sich immer, wenn sie in der Stadt unterwegs waren, darüber klar zu werden, was ihn daran so verblüffte. Es waren nicht die Straßen, die so viel breiter waren als die schmalen Gassen Tokios; auch nicht das fremdartige Aussehen der Einwohner … Nein, es war etwas anderes.
Hiroshi brauchte eine Weile, ehe er es fassen konnte: Dies war Alexandria, Louisiana, eine große amerikanische Stadt, wie er wusste – doch man hatte das Gefühl, sich im Grunde auf einem gigantischen Campingplatz zu befinden. Die Gebäude standen zwar nicht gerade auf Rädern (obwohl es das, wie er entdeckte, auch gab), aber sie wirkten auf eine merkwürdig vorläufige Weise einfach »irgendwie« in die Landschaft gestellt. So, als lohne es sich nicht, auf ihre genaue Positionierung sonderliche Mühe zu verwenden. Als könne jederzeit ein Sturm kommen, alle Häuser hinfort tragen und nur die asphaltierten Straßen übrig lassen, an die man danach eben neue Häuser stellen würde.
Ebenso verblüffte ihn, wie oft es keinerlei Grenzmarkierung zwischen den Grundstücken gab, ein Rasen nahtlos in den des Nachbarn überging: Das war ein äußerst erstaunlicher Anblick für jemanden, der in der Innenstadt Tokios aufgewachsen war, wo es nicht selten vorkam, dass eine Wohnung zwar über einen Balkon verfügte, man aber vom Geländer dieses Balkons aus bequem die Wand des nächsten Gebäudes berühren konnte.
Hiroshi sah auch gepflegte, sorgsam eingezäunte Gärten, doch in dem Viertel, in dem er und sein Vater wohnten, gab es derlei nicht. Hier zählte bereits als Garten, wenn man statt der ursprünglichen Wiese einen Rasen angelegt hatte.
»Es ist eine gute Wohngegend«, widersprach Vater, als Hiroshi ihm von seinen Beobachtungen berichtete. »Sie ist preiswert, das ja. Aber die Leute sind in Ordnung. Und ich geb mein Geld lieber für andere Sachen aus als für ein Haus in einem Angeberviertel.«
Vater ging keinem Beruf nach. Er verbrachte viel Zeit bei Ärzten, durfte auf Behindertenplätzen parken und sammelte ansonsten hauptsächlich Bücher über das alte Japan. Hin und wieder kam es dazu, dass er ein Museum oder eine Galerie irgendwo in Louisiana oder auch mal weiter weg beraten durfte, wenn es um eine Ausstellung über Japan ging, um die berühmten Ukiyo-e -Holzschnitte etwa, um Emaki-Bildrollen aus der Heian-Zeit oder um die Malerei der Muromachi-Periode. Von allen Veranstaltungen, an denen er beteiligt war, bewahrte er Prospekte, Plakate und Kataloge auf; in manchen davon war er sogar namentlich genannt, worauf er nicht wenig stolz war.
Er bat Hiroshi, ihm zu helfen, seine rudimentären Kenntnisse der japanischen Schrift zu vertiefen. So saßen sie viele Abende lang zusammen und fuhrwerkten mit teuren Tuschpinseln auf großen Papierbögen herum (Hiroshi hatte in seinem ganzen Leben noch nie mit Tuschpinseln geschrieben, nur mit Kugelschreibern wie alle anderen auch). Dabei merkte Hiroshi,
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