Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Anrufbeantworter angesprungen.
James hatte also nur wissen wollen, ob sie da war.
Mit einem Schlag war die Unruhe, die beim Duschen von ihr abgefallen zu sein schien, wieder da. Während sie sich anzog, wurde ihr klar, dass sie nicht den ganzen Abend herumsitzen und darauf warten wollte, ob James kam oder nicht. Sie konnte zurückrufen, sagte sie sich beim Haareföhnen. Aber das tat sie nicht, sondern zog eine Jacke über und ging, hinaus in den Nebel, der inzwischen zu einer dicken Suppe geworden war.
Kein Wetter, um Auto zu fahren. Erst recht kein Wetter für Sightseeing-Touren. Egal, es hielt sie nicht zu Hause, nicht heute Abend, nicht jetzt. Einfach fahren. Fuhr sie eben langsam. Sie hatte es ja nicht eilig. Wer nicht weiß, wohin er will – wie könnte der es eilig haben?
Aber war das so? Sie kam an keine Kreuzung, an der ihr die Entscheidung schwergefallen wäre, ob sie abbiegen oder geradeaus weiterfahren sollte. Irgendetwas lenkte sie. So musste sich ein Zugvogel fühlen, der seinem Instinkt folgte.
Es wurde unheimlich. Sie fuhr den McGrath Highway entlang, eine erhöhte Straße, von der aus man normalerweise über die Dächer der meisten Häuser hinwegsehen oder Leute im zweiten Stock beim Fernsehen beobachten konnte. Heute war nichts davon möglich. Konturloses Grau umhüllte sie. Es war, als schwebten sie und die zwei, drei anderen Autos durch reine Formlosigkeit, durch ein Universum vor seiner Entstehung.
Ihr gruselte, und schließlich bog sie ab, fand sich am Charles River wieder, bei den Dormitories des MIT. Sie fand eine Parklücke, stellte ihren Wagen ab, ging zu Fuß weiter. Es roch nach Salz, nach Algen, nach Abgasen. Vor dem MacGregor House blieb sie stehen, sah an der Fassade empor zu den verschwommenen Fenstern, aus denen Licht in den düsteren Nebel rieselte, und fragte sich, welches davon Hiroshis Zimmer sein mochte. Damals in Tokio hatte sie es gewusst.
Wie lange das her war! Sie wandte sich ab, überquerte die Fahrbahnen, ging zum Fluss, den man nur hörte, aber nicht sah. Ein schmaler geteerter Radweg, dann die Böschung und dahinter nur leises, lockendes Gluckern und Manschen. Sie musste an den Schrein denken, den Altar. In der Erinnerung war ihr, als habe sie auch damals hinausgelangt in dichten Nebel …
Sie hörte Schritte hinter sich, drehte sich erschrocken um.
Es war Hiroshi. »Du?«, fragte er, offenbar ebenso erstaunt wie sie.
»Hallo«, sagte sie und schlang die Arme um sich. »So ein Zufall.«
Er war stehen geblieben. »Glaubst du das immer noch?«, fragte er, und es klang, als könne er das nicht fassen. »Dass wir uns zufällig treffen?«
Sie betrachtete ihn, sein Gesicht, das so asiatisch-fremd und so vertraut zugleich war, den dünnen Bogen seiner Augenbrauen, den Schimmer auf seinen tiefschwarzen Haaren. Sie sah immer noch den Jungen, den sie einmal gekannt hatte. Den Jungen, der sie vom Abgrund der Zeit zurückgerissen hatte.
»Ich weiß nicht, warum ich hier bin«, bekannte sie. »Ich wollte heute Abend nicht zu Hause bleiben. Ich bin herumgefahren, aufs Geratewohl … und irgendwann war ich hier.«
Er nickte bedächtig, ehe er antwortete. »Heute ist ein außergewöhnlicher Tag. Das ist das erste Mal, dass ich einfach so aus dem Haus gegangen bin, ohne ein Ziel.« Er sprach nicht weiter. Es war unnötig. Sie wusste, was er damit sagen wollte. Dass sie sich an einem Abend wie diesem, an dem kaum jemand unterwegs war, getroffen hatten, an einem Ort, den keiner von ihnen normalerweise aufsuchte, war jenseits jeder Wahrscheinlichkeit.
Der Nebel schien sie zu umschließen, abzuschirmen gegen den Rest der Welt. In einem Moment wie diesem war es leicht, an Schicksal und Vorbestimmung zu glauben.
Die Unruhe, die sie erfüllt hatte, war verschwunden. Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie das Gefühl, an dem Platz zu sein, an dem sie sein sollte.
Allerdings wurde ihr allmählich kalt. »Hast du eigentlich eine Briefmarkensammlung oder so etwas?«, fragte sie.
Hiroshi riss die Augen auf. »Was? Nein.«
»Oder sonst irgendwas, das du mir zeigen könntest?«
Er überlegte, schien nicht zu verstehen. »Mein Zimmer?«
»Okay«, sagte Charlotte. »Zeig mir dein Zimmer.«
6
Als Hiroshi am nächsten Morgen erwachte, war irgendetwas anders als sonst. Er brauchte eine Weile, um darauf zu kommen, was: Er war glücklich.
Charlotte. Er drehte behutsam den Kopf, betrachtete sie staunend, wie sie da neben ihm lag und schlief. Es war heller Tag. Strahlend weißes Licht
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