Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
nichts mehr übrig von dem überirdischen Glück, mit dem er erwacht war, nicht mehr als eine unwirkliche Erinnerung.
»Und was heißt das, du liebst ihn?«, beharrte Hiroshi. »Ich meine nicht, wie man, was weiß ich, ein Haustier liebt, sondern …« Sie zog den Schnürsenkel fest, stand auf. Er suchte nach Worten; hatte das Gefühl, an einer Grenze zu stehen, hinter der der Wahnsinn lauerte. »Füllt sich dein Herz mit Freude, wenndu ihn siehst? Ist dein Leben schöner, bunter, größer , wenn du mit ihm zusammen bist? Ist er die Erfüllung deines Schicksals? Ist er der Mann, der für dich gedacht war vom Anbeginn der Zeit und für den du gedacht warst vom Anbeginn der Zeit?«
Sie stand da, sah ihn ungläubig an. »Glaubst du nicht, dass du etwas zu romantisch bist?«
Er hielt ihrem Blick stand, würde ihm tausend Jahre lang standhalten, wenn es sein musste. »Glaubst du es?«, fragte er.
Sie gab einen keuchenden Laut von sich. »Bild dir bloß nicht ein, dass du irgendetwas weißt über den Anbeginn der Zeit«, zischte sie.
Dann ging sie.
Als Charlotte das MacGregor House verließ, musste sie sich einen Moment orientieren, weil die Umgebung im hellen Sonnenschein völlig anders aussah als am Abend zuvor. Dann marschierte sie zu ihrem Wagen, stieg ein, knallte die Tür hinter sich zu, ließ den Motor an und scherte in die erste annehmbare Lücke im fließenden Verkehr ein. Sie hatte nicht das Gefühl, beobachtet worden zu sein, und machte sich weiter keine Gedanken.
Dieses Gefühl täuschte. Tatsächlich hatten sieben männliche Augenpaare aus Fenstern des MacGregor House und dreizehn aus Fenstern des benachbarten Burton-Conner House ihren Weg verfolgt. Acht Personen wussten, dass ihr Wagen schon seit gestern Abend an dieser Stelle gestanden hatte. In den darauffolgenden Stunden verbreitete sich die Neuigkeit, dass Charlotte Malroux die Nacht im MacGregor House verbracht hatte, und etwa dreihundert Studenten zerbrachen sich den Rest des Tages aufgeregt den Kopf darüber, bei wem.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Gerücht Harvard erreichte und schließlich James Michael Bennett III., den Erben von Bennett Enterprises .
Es erreichte ihn am Montagmorgen, vor Beginn seines ersten Seminars, in einem dunkel getäfelten Flur, in dem nochder Duft jener großen Zeiten hing, in denen man hier schwere Tabake geraucht hatte.
»Woher hast du das?«, wollte er wissen, das Gesicht eine Maske.
Lawrence Kelly wand sich. »Na ja … wie das halt so geht mit solchen Gerüchten … der Kumpel eines Kommilitonen, der bei mir auf dem Stock wohnt, kennt jemanden im BC … und der hat es von jemandem im MacGregor … Es weiß mittlerweile praktisch jeder. Das Einzige, was man nicht weiß, ist, bei wem sie war.«
Das wiederum wusste James. Er hatte gleich vermutet, dass da mehr lief. Ein alter Freund aus Kindertagen? Bullshit.
»Ich meine«, fuhr Lawrence fort, »theoretisch könnte sie auch bei einer Freundin übernachtet haben –«
»Das war keine Freundin«, knurrte James.
Wahrscheinlich spottete inzwischen halb Harvard über ihn. Und das, wo er sowieso eine Stinkwut im Bauch hatte. Am Samstag hatte er Charlotte aus dem Weg gehen müssen, nur wegen dieses blöden Umzugs, zu dem er keine Lust gehabt hatte, und am Sonntag war sie nicht zu erreichen gewesen. Also hatte er weiter am Projekt Terry Miller gearbeitet, aber die war ein frustrierend zäher Brocken. Er hatte ihr schließlich sogar einen gemeinsamen Trip nach Hawaii vorgeschlagen, mit dem Jet seines Vaters – was schwierig genug zu organisieren sein würde! –, doch nicht einmal das hatte ihn einen Schritt weitergebracht.
Es kam ihm gerade recht, seine Wut an jemandem auslassen zu können, der es auch verdient hatte.
»Komm mit«, befahl er und legte Lawrence die Hand schwer auf die Schulter. Gelegenheit für ihn, Loyalität zu zeigen. »Da wird jetzt einer rausfinden, dass er sich mit dem Falschen angelegt hat.«
Der sogenannte »Unendliche Korridor« ist der rund einen Viertelkilometer lange Hauptflur, der die Hauptgebäude des MITmiteinander verbindet. Er stellt den kürzesten Fußweg zwischen westlichem und östlichem Ende des Campus dar und ist so etwas wie die Hauptschlagader des studentischen Verkehrs. Er ist so schnurgerade gebaut, dass ihn an bestimmten Tagen des Jahres – Ende Januar und Anfang November – die untergehende Sonne auf seiner gesamten Länge bescheint. Hiroshi hatte keine Ahnung, wie viele Schwarze Bretter, Schaukästen und
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