Herr der Diebe
Nur Bo schlief friedlich wie ein Engel, als hätten all seine Sorgen in dieser Nacht ein Ende gefunden.
Prosper und Scipio wurden davon wach, dass jemand die Stalltür öffnete. Tageslicht fiel auf ihre Gesichter. Im ersten Moment wussten sie nicht, wo sie waren, aber das Mädchen, das in der offenen Tür lehnte, brachte die Erinnerung schnell zurück. » Buon giorno, meine Herren«, sagte sie und zerrte die Doggen zurück, als sie in den Stall laufen wollten. »Ich hätte euch noch eine Weile hier im Stall gelassen, aber mein Bruder besteht darauf, euch zu sehen.«
»Bruder?«, flüsterte Scipio Prosper zu, als sie aus dem Stall ins Freie traten. Das große Haus sah im Morgenlicht noch verfallener aus als bei Nacht. Ungeduldig winkte das Mädchen sie die Treppe hinauf, vorbei an den Engeln mit den verlorenen Gesichtern, bis sie zwischen den Säulen vor der Eingangstür standen. Muffig kalte Luft schlug ihnen entgegen, als das Mädchen sie öffnete. Die Doggen drängten sich an ihr vorbei und verschwanden schwanzwedelnd im Inneren des Hauses.
Die Eingangshalle war so hoch, dass Prosper schwindelig wurde. Er legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zur Decke. Sie war bedeckt mit Bildern. Sie waren rußverschmutzt, ihre Farben verblasst, aber man sah trotzdem, wie schön sie einmal gewesen waren. Pferde bäumten sich dort oben auf, Engel spreizten die Flügel und flogen hinauf in einen sommerblauen Himmel. »Nun geht schon!«, sagte das Mädchen. »Gestern hattet ihr es doch noch so eilig. Dort hinein!«
Sie wies auf eine offene Tür am anderen Ende der Halle. Die Doggen stürmten voraus, so ungestüm, dass ihre Pfoten auf dem glatten Steinboden wegrutschten. Zögernd gingen Scipio und Prosper ihnen nach, schritten über Einhörner und Seejungfrauen, Bilder aus winzigen, farbigen Steinchen, die bedeckt waren mit Schmutz. Ihre Schritte hallten so laut, dass es Prosper schien, als flatterten die Engel an der Decke verärgert davon.
Der Raum, in dem die Hunde verschwanden, war dunkel, trotz des Tageslichts, das durch schmale Fenster hereinfiel. In einem Kamin, geformt wie das aufgesperrte Maul eines Löwen, brannte ein Feuer. Davor hatten die Doggen sich niedergelassen, Spielzeug lag zwischen ihren großen Pfoten. Im ganzen Raum lag und stand es herum: Kegel, Bälle, Schwerter, Schaukelpferde, eine ganze Herde davon, Puppen in jeder Form und Größe, achtlos hingeworfen, die Arme und Beine verdreht, dazwischen Armeen von Zinnsoldaten, Dampfmaschinen, Segelschiffe mit geschnitzten Matrosen an der Reling – und mitten in all dem Durcheinander hockte ein Junge. Mit gelangweiltem Gesicht setzte er einen Soldaten auf ein winziges Pferd.
»Da sind sie, Renzo«, sagte das Mädchen und schob Prosper und Scipio durch die offene Tür. »Sie riechen etwas nach Taubendreck, aber du siehst, die Ratten haben sie nicht angefressen.« Der Junge hob den Kopf. Sein schwarzes Haar war kurz geschoren und seine Kleider sahen noch altmodischer aus als Scipios Jacke. »Der Herr der Diebe!«, stellte er fest. »Tatsächlich. Du hattest Recht, Schwesterchen.« Er warf den Soldaten, den er immer noch in der Hand hielt, achtlos auf den Boden, stand auf und trat auf Scipio und Prosper zu. »Du warst doch auch mit in der Basilika, oder?«, sagte er zu Prosper. »Entschuldigt, dass Morosina euch in den Stall gesperrt hat, aber man sollte sich eben nicht mitten in der Nacht auf fremde Inseln schleichen. Das mit dem Falschgeld tut mir Leid, es war Barbarossas Idee, sonst hätte ich euch nicht bezahlen können. Ihr habt es bestimmt schon gemerkt«, er wies auf den abblätternden Putz an den Wänden, »ich bin nicht gerade reich, auch wenn ich in diesem Palast hause.« »Renzo!«, sagte Morosina ungeduldig. »Sag, was wir mit ihnen machen sollen.«
Der Junge schob mit dem Fuß eine Puppe zur Seite. »Sieh dir an, wie entgeistert die zwei mich anstarren!«, sagte er zu Morosina. »Fragt ihr euch etwa, woher ich das alles weiß? Habt ihr das Treffen im Beichtstuhl vergessen? Oder unsere nächtliche Verabredung auf der Sacca della Misericordia?« Prosper wich zurück. Er hörte, wie Scipio neben ihm scharf Atem holte. »Es funktioniert!«, flüsterte Scipio und starrte den fremden Jungen ungläubig an. »Du bist der Conte.« Lächelnd machte Renzo eine Verbeugung. »Zu Diensten, Herr der Diebe«, sagte er. »Dank eurer Hilfe. Ohne den Löwenflügel war es nur ein Karussell, aber jetzt…«
»Frag sie, wer ihnen von dem Karussell erzählt hat«,
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