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Herr der Diebe

Herr der Diebe

Titel: Herr der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Funke Cornelia
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geschrien hat, dass man uns verdächtigt hat, ihn zu schlagen. Können Sie sich das vorstellen? Erst hat er kein Wort gesprochen und bloß stumm in der Ecke gesessen und dann plötzlich diese Tobsuchtsanfälle, nur weil ich versucht habe, ihm saubere Socken anzuziehen. Meinen Mann hat er sogar gebissen! Er hat mit seinem Taschenmesser Löcher in die Vorhänge geschnitten, Kaffee vom Balkon gegossen…«, Esther Hartlieb schnappte nach Luft, »… mein Mann und ich fliegen am Montag nach Hause zurück, wie geplant. Sollten meine Neffen in nächster Zeit von der Polizei aufgegriffen werden, dann veranlassen Sie bitte in unserem Namen, dass sie ins Waisenhaus gebracht werden. Es soll einige gute Einrichtungen hier in der Stadt geben. Haben Sie gehört, Signor Getz? Signor Getz…«
Victor ritzte mit seinem Brieföffner Kerben in die Schreibtischplatte. »Wie lange irrt der Junge schon allein da draußen herum?«, fragte er. »Wann ist er weggelaufen?«
»Vor einigen Stunden. Wir mussten ja erst einmal den Schaden mit dem Restaurant regeln. Und dann ein neues Hotel finden. Mit all unserem Gepäck. Alle anständigen Unterkünfte sind ausgebucht. Und wir sind in einem furchtbar primitiven Hotel an der RialtoBrücke untergekommen.«
Einige Stunden. Victor fuhr sich mit der Hand durch das müde Gesicht und blickte nach draußen. Schwarz und kalt hockte die Nacht zwischen den Häusern. Wie ein Tier, das kleine Jungen verschlang.
»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«, fragte Victor. »Sucht schon jemand nach Bo, Ihr Mann zum Beispiel?«
»Wie meinen Sie das?« Esthers Stimme wurde schrill. »Glauben Sie, einer von uns irrt in diesen finsteren Gassen herum? Nach dem, was sich der Junge an diesem Abend geleistet hat? Nein. Unsere Geduld ist am Ende, ich will nicht einmal mehr seinen Namen hören. Ich…«
Victor legte den Hörer auf. Er legte einfach auf. Vor einigen Stunden! Schlaftrunken zog er sich an. Als er aus der Haustür trat, empfing ihn eine so klirrende Kälte, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Na, immer noch besser als kübelweise Regen, dachte Victor, zog sich den Hut tief in die Stirn und stapfte los. Im letzten Winter hatte die Stadt etliche Male unter Wasser gestanden, so hoch, dass ein kleiner Junge wie Bo wahrscheinlich davongespült worden wäre. Die Lagune überschwemmte Venedig immer öfter, früher war das höchstens alle fünf Jahre passiert. Aber darüber wollte Victor jetzt nicht nachdenken. Seine Stimmung war schon düster genug. Seine Füße waren bleischwer vor Müdigkeit, als er die spärlich beleuchteten Gassen entlangstolperte, über Steine, die silbrig waren vom Frost. Es konnte nur einen Ort geben, an dem Bo sich verkrochen hatte. Er wusste schließlich nicht, dass Prosper und seine Freunde bei Ida Spavento untergekommen waren. Victor schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel über die eiskalte Nasenspitze. Gar nichts wusste er, der arme kleine Kerl.
Es war ein langer Weg von Victors Wohnung zum Versteck der Kinder. Als er endlich vor dem alten Kino stand, war er durchgefroren bis auf die Knochen. Ich muss mir einen wärmeren Mantel kaufen, dachte er, während er nach dem passenden Dietrich suchte. Zum Glück hatte Dottor Massimo das Schloss noch nicht auswechseln lassen. Auch der Vorraum lag immer noch voll Gerümpel, als wäre nichts geschehen seit der Nacht, in der die Kinder Victor gefangen hatten. Aber als er in den dunklen Kinosaal trat, hörte er ein leises Weinen.
»Bo?«, rief er. »Bo, ich bin es, Victor. Komm raus. Oder wollen wir wieder Verstecken spielen?«
»Ich geh nicht zu ihr zurück!«, kam eine verweinte Stimme aus der Dunkelheit. »Glaub das bloß nicht. Ich will nur zu Prosper.«
»Du brauchst auch nicht zurück.« Victor leuchtete mit der Taschenlampe die Sitze entlang, bis das Licht auf blonde Haare fiel. Bo kroch zwischen den Sitzen herum, als suche er nach etwas. »Sie sind weg, Victor!«, schluchzte er. »Sie sind weg.«
»Wer?« Victor beugte sich zu ihm hinunter, und Bo wandte ihm das verweinte Gesicht zu. »Meine Katzen«, schniefte er. »Und Wespe.«
»Niemand ist weg«, brummte Victor, zog Bo hoch und wischte ihm die Tränen von den Backen. »Sie sind alle bei Ida Spavento, Wespe, Prosper, Riccio, Mosca und deine Katzen.« Er hockte sich auf einen Klappsessel und zog Bo auf seinen Schoß. »Man hört ja Sachen von dir, mein Lieber«, sagte er. »Tischdecken runterreißen, schreien, weglaufen. Weißt du, dass deine Tante und dein Onkel wegen dir aus ihrem

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