Herr der Diebe
Beinen gab. »War es immer hier?«, fragte Scipio. Fast andächtig ging er auf das Karussell zu und streichelte dem Löwen die geschnitzte Mähne.
»Seit ich mich erinnern kann«, antwortete Renzo. »Morosina und ich waren noch sehr klein, als unsere Mutter mit uns auf die Insel kam, weil die Vallaresso eine Küchenmagd suchten. Niemand erzählte uns von dem Karussell, es wurde ein großes Geheimnis darum gemacht, aber wir erfuhren trotzdem davon. Es stand schon damals hier hinter dem Labyrinth, und manchmal schlich ich her, um zuzusehen, wie die reichen Kinder darauf fuhren. Zusammen mit Morosina lag ich im Gebüsch, und wir träumten davon, nur ein einziges Mal auch darauf zu fahren. Bis man uns erwischte und zurück an die Arbeit scheuchte. Die Jahre vergingen, unsere Kindheit verging, unsere Mutter starb, wir wurden älter und älter, die Vallaresso verloren ihr Vermögen und verließen die Insel, und Morosina und ich suchten uns Arbeit in der Stadt. Da hörte ich eines Tages in einer Bar die Geschichte von dem Karussell der Barmherzigen Schwestern. Ich wusste sofort, dass es das Karussell auf der Insel sein musste. Plötzlich verstand ich, warum die Vallaresso so ein Geheimnis daraus gemacht hatten. Die Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Sinn, ich träumte davon, den echten Flügel des Löwen zu finden, den Zauber des Karussells wieder zu erwecken und mit meiner Schwester darauf zu reiten. Morosina hat mich ausgelacht, doch sie kam mit, als ich beschloss, auf die Insel zurückzukehren. Das Karussell stand noch da und ich beschloss, mich auf die Suche nach dem Flügel zu machen. Fragt mich nicht, wie viele Jahre es gedauert hat, bis ich herausfand, wo er war.« Renzo kletterte auf das Karussell und lehnte sich gegen das Einhorn. »Es hat sich gelohnt«, sagte er und strich ihm über den Rücken. »Ihr habt mir den Flügel gebracht, und Morosina und ich sind mit dem Karussell gefahren.«
»Ist es egal, auf welche Figur man steigt?« Scipio sprang auf das Podest und schwang sich auf den Rücken des Löwen. »Nein.« Für einen Moment stand Renzo so gebeugt da wie der alte Mann, der er einmal gewesen war. »Für mich war der Löwe das richtige Reittier. Du und dein Freund, ihr müsst auf eins der Wasserwesen steigen.«
»Komm, Prop!’«, rief Scipio und winkte Prosper zu sich herauf. »Such dir eine Figur aus. Welche willst du, das Seepferd, den Wassermann?« Prosper trat zögernd auf das Karussell zu. Er hörte in der Ferne die Hunde jaulen.
Auch Renzo hatte es offenbar gehört. Mit gerunzelter Stirn trat er an den Rand des Podests. »Steigt auf«, sagte er zu Scipio. »Ich glaube, ich muss zurück zum Haus, nach Morosina sehen…« Scipio war schon vom Rücken des Löwen gerutscht und hangelte sich auf das Seepferd. »Prosper, worauf wartest du noch?«, rief er ungeduldig, als er sah, dass Prosper immer noch unten vor dem Podest stand.
Aber Prosper rührte sich nicht. Er konnte nicht. Er konnte einfach nicht. Er stellte sich vor, wie er groß und erwachsen ins Gabrielli Sandwirth trat, Esther und seinen Onkel einfach zur Seite schob und mit Bo an der Hand davonging. Aber trotzdem konnte er nicht auf das Karussell steigen.
»Hast du es dir anders überlegt?«, fragte Renzo und schaute ihn neugierig an.
Prosper antwortete nicht. Er sah zu dem Einhorn hoch, zum Wassermann mit seinem blassgrünen Gesicht und zum Löwen, dem geflügelten Löwen. »Fahr du zuerst, Scip«, sagte er. Die Enttäuschung fiel wie ein Schatten auf Scipios Gesicht. »Wie du willst«, sagte er und drehte sich zu Renzo um. »Du hast es gehört. Lass es fahren.«
»Halt, halt, du hast es weiß Gott eilig!« Renzo zog ein Bündel unter seinem altmodischen Umhang hervor und warf es Scipio zu. »Wenn du nicht gleich aus deinen Hosen platzen willst, dann zieh dir etwas davon an. Es sind alte Sachen von mir, oder sagen wir, vom Conte.« Scipio kletterte nur widerstrebend von dem Seepferd herunter. Als er in Renzos Kleider geschlüpft war, musste Prosper sich das Lachen verkneifen.
»Lach nicht!«, knurrte Scipio und warf ihm seine Sachen zu. Dann krempelte er die viel zu langen Ärmel um, zog die um seine Beine schlackernde Hose hoch und stieg umständlich wieder auf das Seepferd. »Die Schuhe werden mir von den Füßen fliegen!«, schimpfte er.
»Solange du nicht selbst herunterfällst…« Renzo ging zu Scipio hinüber und legte die Hand auf den Rücken des Seepferds. »Halte dich gut fest. Nur ein Stoß und es wird sich drehen, schneller und
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