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Herr der Diebe

Herr der Diebe

Titel: Herr der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Funke Cornelia
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kennen gelernt. Im Sandwirth hatte er, soweit er sich erinnerte, einen schwarzen Vollbart getragen und eine abscheuliche Brille. Er hatte sich selbst kaum im Spiegel erkannt, ein sicheres Zeichen für eine gelungene Verkleidung. Heute trug er sein eigenes Gesicht, was ihm eigenartigerweise immer das Gefühl gab, ein Stück kleiner zu sein. »Buona sera«, sagte er, als er an den Empfangstresen trat. Hinter einem gewaltigen Blumenstrauß tauchte der Kopf der Empfangsdame auf. » Buona sera. Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Victor Getz. Ich habe eine Verabredung mit dem Ehepaar Hartlieb…«, Victor lächelte entschuldigend, »… zu der ich mich bedauerlicherweise etwas verspätet habe. Könnten Sie wohl nachfragen, ob die Herrschaften sich noch auf ihrem Zimmer befinden?«
»Aber natürlich.« Die Frau strich sich lächelnd das schwarze Haar hinter die Ohren. »Was sagen Sie zu dem Schnee?«, fragte sie, während sie zum Telefonhörer griff. »Können Sie sich erinnern, wann es in Venedig zuletzt geschneit hat?« Sie ließ das Wort »Schnee« wie eine Praline auf den Lippen zergehen. Victor konnte sich ihr Kindergesicht so deutlich vorstellen, als hätte sie ihm ein altes Foto von sich gezeigt. Er musste lächeln, als er beobachtete, wie ihr Blick immer wieder nach draußen wanderte, zu den Flocken, die so langsam an den großen Fenstern vorbeischwebten, als drehe sich die Welt plötzlich im Zeitlupentempo.
»Hallo, Signora Hartlieb«, sagte sie in den Hörer. »Hier ist ein Signor Victor Getz für Sie.«
Die Hartliebs hatten keinen Blick für den Schnee übrig. Vor ihren Fenstern schwamm San Giorgio Maggiore auf der Lagune, als wäre es gerade daraus emporgetaucht. Der Anblick war so schön, dass es Victor einen Stich ins Herz gab, aber Esther und ihr Mann standen mit dem Rücken zum Fenster, Seite an Seite, und hatten nur Augen für ihn. Feindselige Augen. Unbehaglich verschränkte Victor die Finger auf dem Rücken. Warum habe ich mir nicht wenigstens einen Schnurrbart angeklebt?, dachte er. Das hätte das Lügen wesentlich erleichtert. Aber die Kinder hatten ihm ja all seine wunderbaren Bärte gestohlen. Also waren sie auch schuld, wenn die spitznasige, scharfäugige Esther ihn beim Lügen ertappte.
»Ich bin froh, dass Sie meine Nachricht erhalten haben«, begann sie in perfektem Englisch. Sie sprach mit Victor nur in seiner Muttersprache. »Nach dem Telefonat mit Ihrer unfreundlichen Sekretärin hatte ich schon daran gezweifelt, dass Sie überhaupt noch in der Stadt sind.«
»Ich verlasse diese Stadt so gut wie nie«, antwortete Victor. »Ich vermisse sie zu sehr, wenn ich fort bin.« »Wirklich!« Esther hob die schmal gezupften Augenbrauen um fast einen Zentimeter.
Erstaunlich, dachte Victor, das schaffe ich nicht. »Also bitte, Signor Getz.« Herr Hartlieb war immer noch groß wie ein Schrank und fast so blass wie die Schneeflocken, die draußen vorbeiwirbelten. »Berichten Sie uns von Ihren Ermittlungen.«
»Meine Ermittlungen, ja.« Victor wippte nervös auf den Zehenspitzen. »Das Ergebnis meiner Ermittlungen ist leider eindeutig. Der Kleine ist nicht mehr in der Stadt, ebenso wenig wie sein großer Bruder.«
Die Hartliebs wechselten einen raschen Blick. »Ihre Sekretärin hatte so etwas angedeutet«, sagte Max Hartlieb. »Aber…«
»Meine Sekretärin?«, unterbrach Victor ihn – und erinnerte sich noch gerade rechtzeitig daran, dass Wespe, Prosper und Riccio in seinem Büro gewesen waren, um die Schildkröte zu füttern. »Ach ja, natürlich, meine Sekretärin.« Er zuckte bedauernd die Schultern. »Wie Sie wissen, war ich Bo und seinem Bruder schon dicht auf den Fersen. Das Foto, das ich Ihnen geschickt habe, beweist das ja wohl. Leider hatte ich damals keine Gelegenheit, mir die zwei zu schnappen. All die Leute, Sie verstehen schon, aber ich fand heraus, dass Ihre Neffen sich mit einer Bande junger Diebe zusammengetan hatten. Leider hat mich einer von ihnen erkannt, ich habe ihn vor langer Zeit bei einem Handtaschendiebstahl ertappt. Tja, dieser kleine Langfinger hat Ihre Neffen wohl davon überzeugt, dass sie in Venedig nicht mehr sicher sind. Meine Nachforschungen haben zu meinem Bedauern ergeben…« Er räusperte sich. Warum bekam er beim Lügen bloß immer einen Kloß in den Hals? »… hm, meine Nachforschungen ergaben, dass die beiden sich vor zwei oder drei Tagen auf eine der großen Fähren geschmuggelt haben, die hier regelmäßig festmachen. Sie haben von Ihrem Fenster aus einen

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