Herr der Diebe
Taschentuchs. »Keine Tasche, kein Beutel? Passt die Beute des Herrn der Diebe diesmal in eure Hosentaschen?«
Bo streckte die Hand aus und betastete einen kleinen Blechtrommler, der auf Barbarossas Schreibtisch stand. »Finger weg, das ist wertvoll!«, schnauzte der Rotbart und schob Bo ein Hustenbonbon hin.
»Wir wollen nichts verkaufen«, sagte Wespe. »Der Conte wollte bei Ihnen einen Brief für uns hinterlegen.« Bo hatte das Hustenbonbon ausgewickelt und schnupperte misstrauisch daran. »Ach ja, der Brief des Conte.« Barbarossa schnäuzte sich noch einmal geräuschvoll und stopfte das Taschentuch zurück in seine Westentasche. Die Weste war mit winzigen goldenen Gondeln bestickt. »Seine Schwester, die Contessa, hat ihn gestern Abend für euch abgegeben. Er selbst kommt nur selten in die Stadt.« Der Rotbart steckte sich auch ein Hustenbonbon in den Mund und öffnete mit einem tiefen Seufzer die oberste Schreibtischschublade. »Hier, bitte sehr!« Mit gelangweilter Miene reichte er Wespe einen schmalen Umschlag. Es stand nichts darauf, weder eine Anschrift noch ein Absender. Aber als Wespe nach dem Umschlag greifen wollte, zog Barbarossa ihn zurück.
»Mal ganz unter Freunden«, schnurrte er und senkte vertraulich die Stimme, »verratet mir, was ihr für den Conte stehlen solltet. Der Herr der Diebe hat den Auftrag ja offenbar zufrieden stellend ausgeführt, nicht wahr?«
»Kann schon sein«, antwortete Prosper ausweichend und zog Barbarossa den Umschlag aus den Fingern. »He, he, he!« Ärgerlich stemmte der Rotbart die Fäuste auf seinen Schreibtisch. Bo verschluckte sich fast an seinem Hustenbonbon vor Schreck. »Du bist wirklich ein frecher Bursche, weißt du das?«, fuhr Barbarossa Prosper an. »Hat dir niemand beigebracht, dass man sich Erwachsenen gegenüber respektvoll benimmt?« Ein heftiger Niesanfall ließ ihn auf seinen Stuhl zurückplumpsen. Prosper antwortete ihm nicht. Wortlos steckte er den Umschlag in die Innentasche seiner Jacke. Bo aber spuckte das angelutschte Hustenbonbon in seine Hand und knallte es dem Rotbart auf den Schreibtisch. »Da, kannst du zurückhaben. Weil du meinen Bruder angebrüllt hast«, sagte er.
Verdutzt starrte Barbarossa auf das klebrige Bonbon. Mit ihrem freundlichsten Lächeln beugte Wespe sich über seinen Schreibtisch. »Wie steht’s mit Ihnen, Signor Barbarossa? Hat Ihnen niemand beigebracht, wie man sich Kindern gegenüber benimmt?«, fragte sie. Der Rotbart musste so heftig husten, dass sein Gesicht röter als seine Nase wurde. »Ist ja schon gut. Beim Löwen von San Marco, seid ihr schnell beleidigt!«, grunzte er in sein Taschentuch. »Ich verstehe diese Geheimnistuerei nicht! Wisst ihr was, wir spielen einfach ein kleines Ratespiel miteinander, wenn ihr mir nicht direkt antworten wollt! Ich fange an.« Er beugte sich über den Schreibtisch. »Ist das, was der Conte so heiß begehrt, aus – Gold?«
»Nein!«, antwortete Bo und schüttelte mit breitem Grinsen den Kopf. »Überhaupt nicht.«
»Überhaupt nicht?« Barbarossa runzelte die Stirn. »Lass mich noch mal raten. Silber?«
»Ganz falsch.« Bo trat von einem Fuß auf den anderen. »Rate noch mal.«
Doch bevor der Rotbart die nächste Frage stellen konnte, schob Prosper seinen kleinen Bruder schon durch den Perlenvorhang. Wespe folgte ihnen. »Kupfer?«, rief Barbarossa ihnen hinterher. »Nein, wartet, es ist ein Gemälde. Eine Figur!«
Prosper öffnete die Ladentür. »Raus mit dir, Bo«, sagte er, aber Bo blieb noch mal stehen. »Alles falsch!«, rief er durch den Laden. »Es ist aus riiiiesigen Diamanten. Und Perlen.«
»Was du nicht sagst!« Barbarossa kämpfte sich hastig durch seinen Vorhang. »Beschreib mir das näher, Kleiner!«
»Machen Sie sich eine Wärmflasche und legen Sie sich ins Bett, Signor Barbarossa!«, sagte Wespe, zog Bo mit nach draußen – und blieb überrascht neben Prosper stehen. Schneeflocken wirbelten durch die Gasse, sie fielen so dicht vom schmutzig weißen Himmel, dass Bo die Augen zukniff. Alles war plötzlich grau und weiß, als hätte jemand die Farben der Stadt wegradiert, während sie in Barbarossas Laden waren. »Es ist also eine Kette. Oder ein Ring?« Aufgeregt steckte Barbarossa den Kopf aus seiner Ladentür. »Warum plaudern wir nicht noch ein bisschen? Ich lade euch zu einem Stück Torte ein, drüben in der Pasticceria. Was haltet ihr davon?« Aber die Kinder schlenderten davon, ohne ihn zu beachten. Sie hatten nur noch Augen für den Schnee. Die kalten Flocken
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