Herr der Diebe
guten Blick auf die Anlegestellen.« Verwirrt drehten die Hartliebs sich um und blickten hinunter zum Kai, wo sich ein Schwarm frierender Touristen auf einen Ausflugsdampfer drängte. »Aber…«, Esther Hartlieb sah so enttäuscht aus, dass sie Victor fast Leid tat, »… wohin fuhr dieses Schiff, um Gottes willen?«
»Korfu«, antwortete Victor. Wie kaltblütig ihm das über die Lippen kam, mal abgesehen von dem Kloß im Hals. Was tue ich da?, dachte er. Belüge meine Auftraggeber! Wenn ich Pinocchio wäre, würde meine Nase jetzt da vorn durch die Scheibe stoßen und alle Tauben der Stadt könnten darauf Platz nehmen…
»Korfu!«, rief Esther Hartlieb und blickte ihren Mann an, als müsste er sie auf der Stelle vorm Ertrinken retten. »Sie sind sich da hundertprozentig sicher?«, fragte Max Hartlieb misstrauisch.
Victor erwiderte seinen Blick mit der unschuldigsten Miene, die er zustande brachte. Nur räuspern musste er sich schon wieder. Was für ein Glück, dass sein Gegenüber nicht ahnte, was das bedeutete. »Nun, ganz sicher kann ich natürlich nicht sein«, sagte er. »Wenn man sich auf ein Schiff schmuggelt, steht man schließlich nicht auf der Passagierliste, aber ich habe einigen Matrosen das Foto der Jungen gezeigt, als das Schiff heute Mittag wieder hier anlegte, und zwei haben sie eindeutig wieder erkannt. Sie konnten sich nur nicht darauf einigen, an welchem Tag die beiden an Bord waren.« Tröstend drückte Max Hartlieb seine Frau an sich. Steif wie eine Schaufensterpuppe ließ sie sich umarmen und blickte dabei Victor an. Einen Atemzug lang hatte er das ungute Gefühl, dass ihm die Lüge mit roter Farbe auf die Stirn geschrieben stand. »Das kann nicht sein!«, sagte Esther Hartlieb und löste sich von ihrem Mann. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass es kein Zufall ist, dass Prosper nach Venedig gekommen ist. Diese Stadt erinnert ihn an seine Mutter Ich glaube nicht, dass er wieder fortgehen würde. Wohin denn, um Himmels willen?«
»Wahrscheinlich ist er auf das Schiff gestiegen, weil er gemerkt hat, dass es hier nicht so paradiesisch ist wie in den Geschichten seiner Mutter«, meinte ihr Mann. »… und dass sie nicht hier ist, selbst wenn es so aussieht wie das Paradies«, murmelte Victor und sah aus dem Fenster. »Nein. Nein. Nein.« Esther Hartlieb schüttelte energisch den Kopf. »Unsinn. Ich habe immer noch das Gefühl, dass er hier ist, und wenn Prosper hier ist, dann ist Bo es auch.« Victor blickte auf seine Schuhe. Es klebte noch etwas Schneematsch daran. Was konnte er sagen?
»Ich habe das Foto vervielfältigen lassen, das Sie uns von den Jungen geschickt haben, Signor Getz«, fuhr Esther Hartlieb fort. »Es kam kurz nach dem Telefonat mit Ihrer Sekretärin bei uns an, und ich habe Plakate davon drucken lassen. Die Belohnung, die wir aussetzen, ist beträchtlich. Ich weiß, Sie haben mir schon einmal davon abgeraten, die Jungen auf diese Weise zu suchen, und ich gebe zu, mit einer Belohnung lockt man immer auch Gesindel an, aber ich werde die Plakate aufhängen lassen, an jedem Kanal, in jeder Bar, jedem Café und jedem Museum. Der Auftrag ist sogar schon erteilt. Ich werde Bo finden, bevor er in dieser elenden Stadt an Lungenentzündung oder Schwindsucht stirbt. Man muss ihn vor seinem selbstsüchtigen Bruder schützen!«
Da schüttelte Victor nur müde den Kopf. »Haben Sie es denn immer noch nicht begriffen?«, sagte er ungeduldig. »Die beiden sind nur weggelaufen, weil Sie Bo von diesem Bruder trennen wollten.«
»Was nehmen Sie sich denn für einen Ton heraus?«, rief Esther Hartlieb entgeistert. »Jetzt sollen plötzlich wir schuld an allem sein?«
»Die zwei hängen aneinander!«, rief Victor. »Verstehen Sie das denn nicht?«
»Wir werden Bo einen Hund schenken«, antwortete Max Hartlieb gelassen. »Sie werden sehen, wie schnell er da seinen großen Bruder vergisst.«
Victor musterte ihn, als hätte der große Mann gerade sein Hemd aufgeknöpft und ihm mit einem Lächeln gezeigt, dass er kein Herz in der Brust hatte. »Beantworten Sie mir mal eine Frage«, sagte Victor. »Mögen Sie eigentlich Kinder?«
Max Hartlieb runzelte die Stirn. Hinter ihm setzte der Schnee den Engeln von San Giorgio weiße Mützen auf. »Kinder allgemein? Nein, nicht unbedingt. Sie sind zappelig, laut und ziemlich oft schmutzig.«
Victor guckte wieder auf seine Schuhe.
»… und außerdem«, fuhr Max Hartlieb fort, »haben sie nicht die geringste Ahnung, was wichtig ist.«
Victor nickte. »Tja…«,
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