Herr der Krähen
anbetete und liebte.
Auch sie musste zugeben, dass Kamĩtĩ ihr Leben berührt hatte. Sie konnte nicht genau sagen wodurch, aber seit sie ihm begegnet war, sah sie das Leben anders. Es war, als gäbe ihr seine bloße Gegenwart einen Grund zu lächeln, selbst angesichts der Skandale und Grausamkeiten des Staates. Sie war stolz auf ihn, wie er Tajirika und Vinjinia behandelt hatte. In seinem Verhalten lag keinerlei Groll, keine Rachelust einem gefallenen Gegner gegenüber. Es sei denn, man wollte es als Rache bezeichnen, dass er Tajirika um die Geldsäcke erleichtert hatte. Während Kamĩtĩ Tajirika zu seiner Erkrankung befragte, hatte sich auch in ihr eine Vorstellung von der Natur dieser Gebrechen herausgebildet, und sie hatte das Gefühl gehabt, als würde Kamĩtĩ sie als Krankheit sehen, die unter den Reichen und Gebildeten von Aburĩria weit verbreitet war. Vielleicht erklärte das zum Teil auch, was mit der Führung des Landes falsch lief und die unglaublichen Wendungen, die das Land seit der Unabhängigkeit durchlaufen hatte.
Ohne es sich eingestehen zu wollen, fühlte sie, wie eine unbestimmbare Wärme ihr ganzes Wesen durchströmte und ihr Herz vor Erwartung höher schlagen ließ, wenn sie an Kamĩtĩ dachte. Aber welche Erwartung? Sie war sich nicht sicher; als sie aus dem Bus stieg und über die Straße ging, wusste sie lediglich, dass er ihr fehlte. Sie waren erst an diesem Morgen auseinandergegangen, aber es kam ihr vor, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.
Im Einkaufszentrum von Santalucia entschied sie, wie sie diesen Abend mit ihm feiern wollte. Sie würde kochen. Sie kaufte etwas Reis, zartes Hammelfleisch, verführerisch reife Tomaten, feine Petersilie und zwei Kerzen. Immer wieder malte sie sich aus, wie dieser Abend verlaufen würde. Sie würde kochen, dann würden sie einander am Tisch gegenübersitzen und die Füße zusammenstecken, sie würden am Feuer hocken, sich unterhalten und sich am Spiel der Schatten an der Wand erfreuen. Beim Gedanken an dieses Beisammensein wurde ihr schwindelig. Ihr war nach Singen zumute, aber ihr fiel keine Melodie ein.
In den vergangenen Tagen hatte sie versucht, früh nach Hause zu kommen, um die abendliche auf den Zauberer wartende Schlange zu vermeiden; diese Männer, die mit der Macht des Bösen ausgestattet werden wollten. Kamĩtĩ und sie hatten dadurch mit Ausnahme der Zeit nach Mitternacht kaum Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden. In den letzten Tagen war die Schlange zwar zunehmend dünner und kürzer geworden, dennoch würden die wenigen, die heute Abend auftauchten, ihrem Abendessen bei Kerzenschein in die Quere kommen. Das erregte ihren Trotz: Sie würde sich von denen nicht den Abend ruinieren lassen.
Viermal klopfte sie an die Tür, ihr geheimes Zeichen. Lächelnd wartete sie, dass er öffnete. Schließlich wurde sie ungeduldig und drehte am Knauf. Die Tür war verschlossen. Vielleicht lag er in der Badewanne. Sie schloss auf, blieb stehen und wartete auf ein Lebenszeichen aus dem Haus. Dann schaute sie überall nach und bemerkte, dass auch Kamĩtĩs Tasche nicht mehr da war. Erschöpft ließ sie sich aufs Bett sinken. Wo war Kamĩtĩ? Wohin war er verschwunden?
19
„Mitternacht ist vorbei, der vierte Tag, seit du spurlos verschwunden bist“, kritzelte Nyawĩra in ein Notizheft, „und ich finde keinen Schlaf. Die Stunden am Tag und in der Nacht erscheinen mir alle gleich. Ich gehe zwar jeden Tag ins Büro, aber ich komme mir vor wie eine Schlafwandlerin, die durch die Straßen von Eldares läuft. Ich kenne niemanden, mit dem ich über dich reden kann, und selbst wenn, gäbe es, glaube ich, kaum jemanden, der dich so sehen könnte wie ich. Ich schreibe, um mein Herz zum Schweigen zu bringen, aber so sehr ich es auch versuche, mir fehlen einfach die Worte zu beschreiben, was ich empfand, als ich an jenem Abend nach Hause kam und feststellte, dass du gegangen warst.
Ich denke Tag und Nacht an dich. Jeder Tag hatte seinen Schmerz, seine Erinnerungen, seine Sorgen. Ich weiß nicht, ob du noch lebst, ob die Polizei dich erwischt hat, oder ob du tot bist, von Dieben umgebracht, obwohl es in unserem Land nicht so einfach ist, Diebe von Polizisten zu unterscheiden. Doch was sollte ein Dieb schon mit deiner Tasche anfangen, in der sich nur Bettlerlumpen befinden? Andererseits: Warum sollte die Polizei dich verhaften? Was könnte sie von dir wollen?
Man sagt, verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen. Neulich nachts
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