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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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arbeiten. Aber wer meine zukünftigen Patienten sein sollten, davon hatte ich keine Ahnung.
    Ich habe mich zu den Religionen Asiens hingezogen gefühlt. Ich wollte mehr über die Propheten und Lehrer des Ostens erfahren. Buddha zum Beispiel, Mahavira, den Begründer des Jainismus, Guru Nanak Dev von den Sikhs oder den Chinesen Konfuzius. Einige ihrer Glaubensvorstellungen – die Lehre des Karma zum Beispiel – stehen dem nahe, was du über die Taten und Handlungen des Menschen als bestimmende Faktoren des Lebens auf der Erde gesagt hast. Das buddhistische Karma ist eine Handlung, eine körperliche, mündliche oder geistige, die eine potentielle Kraft in sich birgt. Jede unserer Handlungen hat eine gute oder schlechte Wirkung und beeinflusst unsere Zukunft. Wiederholt man eine gute Tat, dann vermehrt sie das Gute, und seine potentielle Kraft wirkt sich als positiver Einfluss auf die Zukunft aus. Jeder Mensch hat sein eigenes Karma, sein ganz eigenes Potential für das Gute oder das Böse. Wie ,Chi‘ bei den Igbo.
    Unsere Ahnen sagen, dass ein Bauarbeiter dir ein Haus nur mit dem Baumaterial bauen kann, das du selbst ihm lieferst. Du bringst ihm Steine? Dann bekommst du ein Steinhaus gebaut. Du bringst ihm Holz? Dann bekommst du ein Holzhaus. Du bringst ihm schadhafte Steine, schadhaftes Holz oder Eisen oder schadhaften Stahl, dann baut er ein schadhaftes Haus. Der entscheidende Unterschied zwischen deiner Position und den Religionen, die ich studiert habe, besteht im Glauben an die Seelenwanderung. Begehst du in diesem Leben bestialische Taten, dann wirst du im nächsten Leben als gierige Hyäne oder hässliches Warzenschwein oder einfach als Untier auf die Welt kommen. Jeder Mensch sollte ein Leben guter Taten führen, damit sie oder er im nächsten Zyklus des Seins als höheres Wesen wiedergeboren wird.
    Der buddhistische Standpunkt zum Eigentum zog mich an. Ein Mensch, der Ruhm, Wohlstand und Liebe anstrebt, ist wie ein Kind, das Honig von einer Messerklinge leckt. Indem es die Süße des Honigs kostet, riskiert es, sich in die Zunge zu schneiden. Besonders jedoch hat mich die Vorstellung vom Nirwana fasziniert. Ich weiß, dass das Wort übersetzt ‚erlöschen‘ heißt. Es handelt sich um einen Zustand perfekter Erleuchtung, ein Zustand, in dem alle menschliche Verunreinigung und Leidenschaft durch Übungen und Meditationen auf der Grundlage der Weisheit ausgelöscht sind. Buddha bedeutet ‚der Erleuchtete‘, ‚der, der die Erleuchtung erlangt hat‘. Und mir war nicht entgangen, dass Gautama Buddha diesen Zustand im hohen Alter erreicht hat, als er im Wald zwischen zwei hohen Bäumen lag.
    Als ich nach Aburĩria zurückkehrte, musste sich meine Beschäftigung mit der Spiritualität den Notwendigkeiten unterordnen: Ich musste Arbeit finden. Ich habe eine Zeit lang geglaubt, man könnte im Geschäftsleben auch durch Aufrichtigkeit bestehen – du weißt schon, ohne zu schmieren – und dadurch unkorrumpierbar bleiben. Aber wie sich herausstellte, bekam ich nicht einmal die Möglichkeit, es herauszufinden. Den Rest kennst du.
    Inzwischen glaube ich, dass es eine Kraft außerhalb von uns gibt, die über die Menschen bestimmt. Es ist jene Kraft, auf die die Religionen hinweisen, wenn sie sagen, dass Gott sich auf geheimnisvolle Weise offenbart und seine Wunder vollbringt. Wir beide hatten es uns ja nicht ausgesucht, als wir uns begegneten. Dieselbe Kraft hat dich hierhergeführt. Hinter all dem steckt eine Bestimmung.
    Nyawĩra, bitte geh nicht zurück nach Eldares, zurück in diese Verdorbenheit. Lass uns hier ein Haus bauen; hören, was die Tiere und Bäume uns zu sagen haben. Vor langer Zeit glaubten meine Vorfahren, die Jäger, dass die Sonne unser Gott ist, weil sie der Ursprung von Licht und Feuer ist. Wenn wir als Kinder ihre Hitze in einem Brennglas einfingen, glaubten wir, ein Stückchen von ihrer Macht eingefangen zu haben. Lass uns hierbleiben und die Geheimnisse der Sonnenglut und des Lichts der Millionen Sterne entdecken.“
    Nyawĩra traute ihren Ohren nicht. Diese Antwort hatte sie nicht erwartet. Er bat sie, Eldares den Rücken zu kehren, Aburĩria, ihrem Volk, um ein Einsiedlerleben zu führen als eines der Kinder Buddhas im neuen Jahrtausend mitten im aburĩrischen Wald, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, schob sie Kamĩtĩs Hand von ihrer Schulter.
    „Vielleicht sind wir zu verschieden. Du fühlst dich zur Errettung verletzter Seelen berufen, ich

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