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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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die Macht habe, auch das zu zerschlagen, was sich dem Blick vollständig verbirgt?“ Sikiokuus Versuch, den Zorn des Herrschers zu mildern, indem er ihm erklärte, seine Bemerkung sei nur ein Sprichwort gewesen, machte es noch schlimmer. Wollte Sikiokuu etwa andeuten, die machtvollen Aussprüche des Herrschers seien Sprichwörtern unterlegen? Er, der Herrscher, besitze die Macht über sämtliche Sprichwörter, über alle Rätsel Aburĩrias, und kein Sprichwort könne ihn davon abhalten, das Verborgene zu zerschlagen, selbst wenn es im unzugänglichsten Loch steckte.
    Um das dem Volk noch einmal klarzumachen, beschloss der Herrscher, eine Rede an die Nation zu halten.
    Sein Auftritt, der auf allen Kanälen ausgestrahlt wurde, war optisch beeindruckend und die Leute reden bis heute darüber. Seine Regierung wisse, teilte er der Nation mit, dass bestimmte unzufriedene Elemente, die selbsternannte „Bewegung für die Stimme des Volkes“, mit Lügen Studenten der Universität angeheuert hätten, um bei Kundgebungen Plastikschlangen zu verstreuen. Er wolle der Nation ins Gedächtnis rufen, dass die Regierung als unmittelbare Reaktion auf die Wünsche des Volkes schon vor vielen Jahren alle politischen Parteien verboten habe. Es gebe in Aburĩria nur eine einzige Partei, und der Herrscher sei ihr Führer. Die ganze Welt solle wissen, ereiferte er sich, dass die Bewegung für die Stimme des Volkes von dieser Minute an aufhöre zu existieren, egal ob im Untergrund oder darüber. Der Herrscher sei die einzige Stimme des Volkes, und das Volk wolle es so.
    Um die Lügen dieser Terroristen zu bekämpfen, befahl er die Gründung einer neuen Einheit: „Seine Allmächtige Jugend“. Und er forderte alle Schüler und Collegestudenten auf, sich ihr anzuschließen und die Jugendbrigade des Herrschers zu bilden. Ihre Hauptverantwortung liege darin, dem ganzen Land zu verkünden, seine Allmächtigkeit sei die Macht und das Licht der ganzen Nation. Die Jugendbrigade solle folgenden Katechismus lehren: Aburĩrier können nie eine andere Partei als die Ruler’s Party haben noch politische Idole verehren, die den Herrscher nachahmen. „Dem Herrscher zu Diensten“ soll ihr Leitspruch sein und DHZD werde auf ihren Abzeichen, Briefköpfen, Kleidern und Fahrzeugen stehen.
    Der Herrscher machte eine Pause, damit diese Botschaft bei seinen Fernsehzuschauern greifen konnte. Und dann folgte, was in ganz Aburĩria zum Gespräch wurde und möglicherweise der Ausgangspunkt der Gerüchte über Schlangen, Teufelsanbetung und übernatürliche Kräfte war. Um die Drohung zu unterstreichen, wies er mit seinem keulenartigen Herrscherstab in die Kamera, als zeigte er auf die Terroristen von der Bewegung für die Stimme des Volkes. Er, der Herrscher, werde all ihre terroristischen Plastikschlangen von echten Schlangen vernichten lassen. „In vergangenen biblischen Zeiten hatten die mosaischen Schlangen die pharaonischen verschlungen. Heute aber, in Aburĩria, werden die pharaonischen Schlangen diejenigen von euch verschlingen, die glauben, der neue Moses zu sein.“
    Er hob seine Herrscherkeule noch höher in die Luft, als machte er sich bereit, sie gegen jeden selbst ernannten Moses zu schleudern. Die Kameramänner duckten sich hinter ihren Kameras, und genau in dieser Sekunde zersprangen alle Fernsehbildschirme im Land gleichzeitig in sieben Stücke, als wären sie von ein und demselben Gegenstand getroffen worden. Die Zuschauer waren sich nicht sicher, ob der Herrscher die Keule tatsächlich geschleudert hatte oder ob er einfach über die Geisteskraft verfügte, ihre Bildschirme bersten zu lassen. Darüber gehen die Meinungen bis heute auseinander. Was auch immer der Wahrheit entspricht, dieser Fernsehauftritt war der Anlass für das Aufkommen eines neuen Schlangentanzes, der große Mode wurde. Wann und wo immer sich zwei oder drei junge Leute trafen, verdrehten sie die Körper – Kopf, Oberkörper und Hände – in Schlangenbewegungen und sangen das Lied:

    Der Topf ist zerbrochen, den ich gebrannt
    Ich wusste nicht, dass die Freiheit
    Vipern und Teufel gebiert.

9
    Den Herrscher kümmerten die Gerüchte über Teufel und Schlangen zunächst wenig, weil er hoffte, durch sie die Angst seiner Feinde zu vergrößern und seine Herrschaft über Aburĩria zu festigen. Doch als ihm der M5 berichtete, dass die Gerüchte beim Volk nicht Furcht, sondern in Wirklichkeit eine abschätzige Meinung über seine Herrschaft hervorriefen, die an Verachtung grenzte,

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