Herr der Krähen
wäre lebendig.
„Du bist also auch ein Künstler und hast mir das nie erzählt?“, fragte Nyawĩra. Bin ich dem einen Künstler entkommen, nur um mich in den Armen des nächsten wiederzufinden?, dachte sie, während sie eine Figur nach der anderen aufhob, um sie zu betrachten.
„Ich habe erst hier damit angefangen“, antwortete Kamĩtĩ. „Wenn man allein im Wald wohnt, ist man gezwungen, über das Universum und die Schöpfung nachzudenken. Ich habe viel über afrikanische Götter nachgedacht und mich gefragt: Warum schnitze ich nicht ein panafrikanisches Pantheon der Heiligen? Sie werden mir Gesellschaft leisten. Herz und Körper zitterten innerlich, aber als ich mich an die Arbeit machte, war es, als führte mich eine unsichtbare Hand.“
„Sie sind wirklich schön und beeindruckend, und sie fühlen sich sehr lebendig an“, sagte Nyawĩra. „Du solltest eigentlich Wangai heißen. Aber jetzt ist mir eher nach angewandter Kunst. Es ist Zeit, dass ich zurückkehre und mich der Wirklichkeit und den konkreten Erfordernissen im Kampf gegen die Diktatur widme.“
„In Ordnung, morgen wenden wir die angewandte Kunst auf dich an“, antwortete er.
Sie spannten trockene Häute auf und gerbten sie, damit sie weich wurden und man sie als Kleidung tragen konnte. Sie fertigten Halsketten aus angespitztem Holz und Tierzähnen. Und sie trockneten Beeren. Für Nyawĩra nähten sie einen Lederrock und ein dazu passendes Oberteil, und es stand ihr tatsächlich so gut, dass Kamĩtĩ schwor, er würde sie niemals darin erkennen.
„Damit“, verkündete er, „sind Mr. und Mrs. Herr der Krähen bestens gerüstet, in Eldares ein Unternehmen für magische Zauberkräfte zu eröffnen.“
16
Der Name Herr der Krähen tauchte während Tajirikas Martyrium in der Gefangenschaft immer wieder auf. Seine Folterer stellten ihm wieder und wieder dieselbe Frage, was Tajirika derart durcheinanderbrachte, dass er trotz der Schmerzen und der Angst vor weiteren Peitschenhieben seine namenlosen und unsichtbaren Folterer anschrie:
„Was wollt ihr denn noch über den Herrn der Krähen wissen? Ich habe euch doch schon alles gesagt! Soll ich euch sagen, dass er der Schöpfer von Himmel und Erde ist?“
„Sag uns einfach alles. Wann, wo und wie du ihn zum ersten Mal getroffen hast; die genauen Worte, die er gesprochen hat, als du ihm begegnet bist, und vor allem, ob ihr euch je wieder getroffen habt …“
„Wen? Machokali oder den Herrn der Krähen?“, fragte Tajirika, der jetzt endgültig verwirrt war, weil er dem Herrn der Krähen nur ein einziges Mal begegnet war.
Die Verhöre, den Herrn der Krähen und selbst Machokali betreffend, waren allesamt ein Vorwand. Die Folterknechte waren hinter einem größeren Fisch her. Sie warteten auf ein Wort, eine Geste, die sie zu Nyawĩra führten, jener Frau, die die Dämonen der Frauen erweckt hatte, die wiederum Rachaels Dämon gerufen hatten, der jetzt nachts in deren Landgefängnis umherstreifte und als Licht allen, die dort wohnten, sichtbar war.
Nyawĩra, eine Frau, die gleichermaßen weibliche und männliche Dämonen wecken konnte, war gefährlich, eine Bedrohung für Aburĩria. Man musste sie mit allen Mitteln zur Strecke bringen, um dem Befehl des Herrschers Folge zu leisten, den dieser mit immer größer werdender Dringlichkeit und Verzweiflung gegeben hatte. Zuletzt wiederholte er ihn nur wenige Minuten, bevor er – begleitet von einem großen Gefolge, zu dem auch sein offizieller Biograph mit seinem riesigen Stift und Buch sowie seine Sicherheitsmannschaft einschließlich Arigaigai Gathere gehörten – an Bord des Flugzeugs ging, das ihn in die USA bringen sollte: „Bringt mir Nyawĩra; sucht sie auf dieser Erde oder im Land der Geister.“
„Ehrlich! Haki ya Mungu !“, pflegte A.G. seine Erzählung zu unterbrechen, um zu schwören. „Ich gehörte zur Sicherheitsmannschaft, die speziell für die Reise des Herrschers nach Amerika zusammengestellt wurde, und ich stand, dort auf dem Flughafen, ganz dicht bei ihm, und ich hörte, wie er zu Sikiokuu sagte: ‚Wenn ich aus Amerika zurückkomme, will ich diese Frau, diese Nyawĩra, in meinen Armen …‘“
D R I T T E S B U C H
Weibliche
Dämonen
E R S T E R T E I L
1
Kommt alle, die ihr dabei wart, und helft uns, von den Ereignissen zu berichten, die dem Besuch des Herrschers in den USA folgten. Diese Geschichte bedarf vieler Zungen, um die Wahrheit ans Licht zu
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