Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
Vom Netzwerk:
saßen, sich umschauten und sich an Bibel und Kreuz klammerten, ihren einzigen Schild gegen das Böse.
    „Was hat euch zu meiner Tür geführt? Was plagt euch?“, sprach der Herr der Krähen, nachdem er das verspiegelte Fenster geöffnet hatte.
    Maritha und Mariko erschraken, weil die Stimme gar nicht satanisch klang und auch nicht mit der übereinstimmte, die sie in ihren Träumen und Albträumen heimsuchte. Trotzdem beschlossen sie, in die Offensive zu gehen und klarzustellen, dass sie bekennende Christen seien und sich dem großen Versucher der Seelen nicht beugen würden.
    „Als Erstes müssen Sie wissen, dass wir nicht an Weissagungen und Magie glauben“, sagte Mariko unverblümt.
    „Was wollt ihr dann von mir?“, fragte der Herr der Krähen verblüfft, obwohl er sich Mühe gab, das zu verbergen.
    „Sie zu Satan zurückschicken“, sagte Maritha.
    „Zu Satan?“, fragte der Herr der Krähen. „Selbst wenn ich wüsste, wie und wo ich ihn finden könnte, was sollte ich ihm sagen?“
    „Dass wir nicht an Ehebruch glauben“, fügte Maritha hinzu.
    „Dass wir, auch wenn er unsere Körper verführt, sich nach anderen zu sehnen …“, sagte Mariko.
    „Und wir sind jetzt in einem fortgeschrittenen Alter …“, warf Maritha ein.
    „Und unser Letztgeborenes ist schon auf die Welt gekommen …“, fügte Mariko hinzu.
    „Wir uns der Versuchung niemals unterwerfen werden“, sagten sie im Chor.
    „Was will der Leib, die Frucht von Adam und Eva, wirklich?“, fragte Mariko, als würde er sich diese Frage selbst stellen. „Ist dies nicht ein Werk des Teufels, heute wie damals am Anfang der Schöpfung? Wenn wir andere Menschen ansehen, stehen unsere Körper vor Verlangen in Flammen, wenn wir dann aber nach Hause kommen, sind sie kalt wie Asche. Es scheint, als sängen schon die Kinder über uns …“ – und an dieser Stelle stimmte Maritha ein Kinderlied an:
    Was anderen gehört
    macht dir die Zunge nass
    Was dir gehört
    trocknet sie aus
    Für kurze Zeit benahmen sie sich, als befänden sie sich in der Welt ihrer Kindheit und sängen einander etwas vor; der Herr der Krähen musste sich räuspern, um sie daran zu erinnern, dass er noch da war.
    Maritha und Mariko waren verblüfft, gesungen und sogar Spaß an Liedern gehabt zu haben, die sie zuletzt als Kinder gesungen hatten. Sie blickten zum Herrn der Krähen, peinlich berührt, dass er Zeuge ihres kindlichen Verhaltens geworden war. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, hörten sie ihm jetzt aufmerksam zu, und es dauerte einige Zeit, bis ihnen klar wurde, dass sie, statt ihn zu verhören, bereitwillig Fragen beantworteten.
    „Schlaft ihr im selben Bett?“
    „Oh, ja, wir sind nicht so reich, uns den Luxus leisten zu können, in zwei Betten zu schlafen“, antwortete Maritha.
    „Aber wir beklagen uns nicht“, fügte Mariko schnell hinzu.
    „Wir singen das Lob unseres Herrn aus Dankbarkeit, dass wir leben“, sagte Maritha, und wieder stimmten beide an:
    Sei dankbar für das kleinste Glück
    Ehr, was der Herr dir gegeben hat
    Mit seiner zweiten Frage brachte der Herr der Krähen sie wieder zum Schweigen.
    „Was macht ihr als Letztes vor dem Einschlafen?“
    „Wir danken dem Herrn, dass er den ganzen Tag für uns und unsere Kinder sorgt, und uns nichts Schlimmes zustößt. Ist das nicht Grund genug, um unserem Schöpfer Dank zu sagen?“, antwortete Mariko.
    „Vor allem in heutiger Zeit, wo im Land so viele Morde geschehen“, fügte Maritha hinzu.
    „Niemand ist mehr sicher, nicht einmal in den eigenen vier Wänden“, sagte Mariko.
    „Deshalb bitten wir den Herrn vor dem Einschlafen, über unseren Schlaf zu wachen“, ergänzte Maritha.
    „Und uns vor Satans List zu schützen“, sagten beide.
    „Und was wollt ihr nun?“, fragte der Herr der Krähen sanft, aus Neugierde und weil er wissen wollte, was sie sich außerdem vom Leben erwarteten.
    „Wir wollen etwas, was den Körper heilt“, antwortete Mariko.
    „Was das Herz heilt, überlassen wir Gott“, ergänzte Maritha.
    Der Herr der Krähen schaute in ihre Gesichter, aber statt Mitleid für dieses Paar zu empfinden, spürte er so etwas wie Neid. Diese beiden liebten einander so sehr, dass sogar ihre Gedanken identische Wörter und Sätze fanden. Er hatte das Bedürfnis, Nyawĩra zu rufen, damit sie sich dieses Abbild reifer Liebe ansah, ein Vorbild für ihre gemeinsame Zukunft. Aber schnell verwarf er diesen Gedanken und zwang sich, seine Arbeit wieder aufzunehmen.
    „Da ihr nicht an

Weitere Kostenlose Bücher