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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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denn?“
    Eine Zeit lang blieb Kamĩtĩ stumm, als würde er über die Frage nachdenken. Dann antwortete er mit Sätzen, die sich wie Zeilen eines Gedichtes anhörten:
    Der Weg, von dem man sprechen kann, ist nicht der ewige Weg
    Der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name
    Im Namenlosen liegt der Ursprung von Himmel und Erde
    „Entschuldige bitte, was ist das?“, fragte Nyawĩra.
    „Diese Zeilen stammen aus dem ‚Tao te king‘ von Lao-Tse, einem schmalen Bändchen, das dieser chinesische Seher mehr als fünfhundert Jahre vor Christus geschrieben hat. Tao. Der Weg. Mögest du in der Mitte des Weges bleiben – gibt es bei uns nicht ein solches Sprichwort?“
    „Okay. Zeig mir den Weg nach Hause. Wann gehen wir los? Sofort? Heute? Morgen oder übermorgen?“, fragte Nyawĩra spontan. Sie versuchte, unbeschwert zu klingen, obwohl sie noch immer mit der Schwermut zu kämpfen hatte, die auf ihrem Herzen lag.
    „Nicht heute. Nicht morgen. Auch nicht übermorgen. Wir müssen uns vorbereiten.“
    „Was müssen wir?“
    „ Tulia! Tulia kidogo mama ! Was hast du zu mir gesagt, als wir uns das letzte Mal hier unterhalten haben? Dass ich zum Seher des Volkes werden soll. Mit dir werde ich anfangen, und ich möchte, dass du dich meinen Händen anvertraust. Bevor ich dir sage, was wir meiner Meinung nach tun und wo wir uns verstecken sollen, möchte ich, dass du erfährst, was Natur und Einsamkeit uns lehren können. Einfachheit und Ausgeglichenheit. Der Weg. Nenn es die Forest School of Medicine and Herbology. Ich werde dir eine Medizin verabreichen, die deine Augen sehen lässt, was ich sehe. Erst dann wirst du sagen können: Früher habe ich alles verschwommen wie in einem dunklen Spiegel gesehen, aber jetzt sehe ich klarer.“
    „Hast du das alles in Indien gelernt?“, fragte Nyawĩra einige Tage später, nachdem sie erkannt hatte, welche Heilkraft selbst ein winziger Busch in sich trug. Naturapotheke nannte er das.
    „Die Natur ist der Ursprung aller Heilkraft. Aber wir müssen uns ihr hingeben und bereit sein, von ihr zu lernen. Ich habe, was ich bereits wusste, mit dem verbunden, was ich den indischen Heilern der Westghats abgeschaut habe, an Orten wie Kottakkal und Ernakulam. Vor allem den Siddha-Heilern. Ein Siddha ist ein Dichter, ein Seher, ein Linderer der Seelen und ein Kräuterexperte. Es heißt, er würde die Fähigkeit besitzen, seinen Körper zu verlassen und sich in andere Wesen hineinzuversetzen, sogar in den Körper von Tieren, und dort eine Weile zu bleiben, bevor er wieder in den eigenen Körper zurückkehrt.“
    „Stell dir vor, was ich mit solchen Fähigkeiten anstellen könnte“, meinte Nyawĩra lachend. „Wenn die Schergen des Staates über mich herfallen wollen, verwandle ich mich einfach in eine Katze mit ihren neun Leben oder in einen Vogel und entwische ihnen.“
    „Das ist nicht zum Lachen“, sagte Kamĩtĩ in einem ernsten Ton, sodass sie ihn verwirrt ansah.
    Eines Nachts, nachdem sie sich geliebt hatten, lagen sie schweigend nebeneinander auf dem Rücken. Kamĩtĩ dachte daran, ihr zu erzählen, wie er manchmal, wenn er allein war, aus seinem Körper schlüpfte und durch den Himmel schwebte, verwarf diesen Gedanken aber, weil er sich an den Ton ihrer Stimme erinnerte, als er ihr von der Macht der Siddha-Heiler erzählte.
    „Das Himmelszelt ist auch ein besonderes Wissensgebiet“, sagte Kamĩtĩ. „Die Sterne geleiteten Hirten durch Wüsten und Grasland.“
    „Nicht nur die Hirten“, gab Nyawĩra zurück. „Die Sterne haben auch mich durch das Grasland geleitet.“
    „Wusstest du, dass unser Volk glaubte, die Sonne wäre Gott?“, sagte Kamĩtĩ, der noch immer zu den Sternen hochschaute.
    „Die Götter gehen dir wohl immer im Kopf herum?“, kommentierte Nyawĩra.
    „Soll ich dir etwas zeigen?“, fragte Kamĩtĩ plötzlich. „Du musst mir aber versprechen, dich nicht über mich lustig zu machen.“
    „Warum sollte ich mich über dich lustig machen, wenn du mir noch eine Pflanze zeigst?“, antwortete Nyawĩra, die die Erregung in Kamĩtĩs Stimme neugierig machte.
    Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu einer Gruppe Sykomoren. Vor einem der Bäume, dessen Äste so tief herabhingen, dass sie vom Unterholz nicht mehr zu unterscheiden waren, blieb er stehen.
    Kamĩtĩ ließ ihre Hand los, bückte sich, hob etwas auf und gab es ihr. Es war eine Figur aus Holz, doch war deren Gesichtsausdruck so eindringlich, dass Nyawĩra einen Augenblick lang glaubte, sie

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