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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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bringen, denn keiner von uns war gleichzeitig in Aburĩria und in Amerika.
    Was die Geschehnisse in Amerika angeht, können wir auf viele Quellen zurückgreifen, um eine Erzählung zu stricken. So haben wir zum Beispiel einen Aufsatz über die seltsame Krankheit des Herrschers, den Professor Furyk von der Harvard University verfasst hat. Der Aufsatz enthält eine Vielzahl von Informationen, noch ergiebiger aber ist das Tagebuch, das der Professor über seinen Kampf, ein Heilmittel gegen diese Krankheit zu finden, führte. Auch in den Archiven von seriösen Zeitungen und selbst in der phantasiebegabten Boulevardpresse lassen sich Häppchen der Wahrheit aufspüren. Bibliotheken überall auf der Welt einschließlich der Kongressbibliothek in Washington können für die Dokumentation der Ereignisse nützlich sein. Alternativ oder zusätzlich können wir auf die unsichtbare, weltweite Internet-Community zurückgreifen, die aus lokalen Medien berichtet.
    Es ist unnötig zu erwähnen, dass sich unsere eigenen Medien wegen der Amerikareise überschlugen, auch wenn sie ein bisschen übertrieben, wie hervorragend der Staatsbesuch verlief und wie begierig die Amerikaner waren, von Marching to Heaven zu erfahren, und dem Herrscher samt seinem Gefolge nicht von der Seite wichen. Sogar UN -Delegierte wurden dahingehend zitiert, wie sehnlich siedie angekündigte Rede des Herrschers erwarteten. AMERIKA IST EINE SUPERMACHT, ABURĨRIA ABER BAUT DAS SUPERWUNDER verkündeten die Schlagzeilen einiger aburĩrischer Zeitungen. Radio und Fernsehen standen dem nicht nach. Die aburĩrischen Medien waren jedoch zögerlich, Vorhersagen über den Ausgang der Reise zu treffen, denn die Global Bank hatte wie das Schicksal das letzte Wort in dieser Angelegenheit, und der Herrscher musste abwarten.
    Es sind also lediglich die Ereignisse in Aburĩria, bei denen es uns schwerfallen könnte, ein vollständiges Bild zu zeichnen, und wir müssen uns, was diesen Teil der Geschichte angeht, auf zahllose Gerüchtemacher verlassen, die zu jener Zeit durch die Rückkehr des Herrn der Krähen nach Santalucia und seine wundersamen Kräfte in Heilkunde und Wahrsagerei in Aufregung versetzt wurden.

2
    Es gab nicht einen einzigen Kranken, den er nicht heilen konnte. Einige schworen bei allem, was ihnen heilig war, das Schauspiel mit eigenen Augen gesehen zu haben, und behaupteten, der Herr der Krähen könne jedes Übel austreiben, egal wo es sich verstecke, wobei er spöttisch vor sich hin murmeln würde: „Du hast also tatsächlich geglaubt, schlauer als der Herr der Krähen zu sein!“ Worauf die Krankheit, wie man sich erzählte, die schmachvolle Niederlage ahnend, sich aus dem Körper des Opfers davonmachte. Er wusste so viel über die Heilkraft der Kräuter, weil er sich, behaupteten die Erzähler, in eine Pflanze verwandeln konnte und anschließend, mit den Geheimnissen des Pflanzenlebens ausgestattet, in seine menschliche Form zurückkehrte.
    Vielleicht hatte Kamĩtĩ diese Gerüchte selbst ausgelöst, weil er seinen Klienten immer den Rat gab: Alles Leben ist eins und es strömt wie ein Fluss oder die Wasser des Meeres. Pflanzen, Menschen, Tiere bis hinab zu den kriechenden Wesen, sie alle beziehen ihren Anteil aus dem einen unteilbaren Fluss des Lebens, genauso wie sie alle aus der Luft ihren Atem schöpfen.
    Angefangen hatten sie in Nyawĩras Haus, doch wegen des Zustroms so vieler neuer Klienten, bauten sie im Grasland außerhalb der Randgebiete von Santalucia einen größeren Schrein. „Schrein der Modernen Magie und Zauberkunde“ nannten sie ihn. Zentrum aller Aktivitäten im Schrein war die Weissagung. Die meisten Klienten glaubten, böser Zauber sei der Ursprung aller Krankheiten. Sie konnten sich deshalb eine ordentliche Diagnose oder Besserung ohne ein Weissagungsritual nicht vorstellen und erwarteten eine unverfälschte magische Darbietung. Kamĩtĩ und Nyawĩra richteten ihre Rolle als Herr der Krähen an den Notwendigkeiten des jeweiligen Anlasses aus. Sie verlangten von den Armen und Reichen die gleiche Bezahlung, die sich an dem orientierte, was sich ihrer Meinung nach ein Durchschnittsverdiener leisten konnte. Sie achteten jedoch darauf, niemals jemanden wegzuschicken, der kein Geld hatte. Diese Leute versprachen zu zahlen, sobald sie konnten, und hielten alle Wort. Nyawĩra konnte nie so recht sagen, ob sie es aus Ehrlichkeit taten, aus Dankbarkeit oder einfach nur, weil sie den Zauberer und seine Künste fürchteten.
    Obwohl sie

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