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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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haben, in einem anderen Land leben zu müssen, lässt sich auch das einrichten.“
    „Ich sollte Ihnen dafür danken“, seufzte der Herrscher, „dass Sie die Wahrheit gesagt haben. Wir Herrscher sind eitel und erkennen nie, wenn das Alter an die Tür klopft und sich bei uns einnistet“, fuhr er mit matter Stimme fort. „Aber Sie können mir glauben, ich habe schon oft daran gedacht, diese Last von mir zu werfen und mir die Zeit zu gönnen, mich an meinen Enkeln zu freuen. Die Schwierigkeit besteht nur darin, genau herauszufinden, welchem der jungen Männer, die mich umgeben, ich vertrauen kann, die Nation in die richtige Richtung zu lenken.“
    Der Sondergesandte war mit dieser Antwort sehr zufrieden und so brachte er vorsichtig Machokali ins Spiel.
    „Während Ihres letzten Besuchs in Washington machte er einen sehr guten Eindruck. Er ist jung und scheint eine gute Auffassungsgabe zu haben. Er ist Ihrer Philosophie treu ergeben. Er handelt rational und weniger emotional, und wir im Westen kommen gut mit ihm zurecht. Aber das ist nur die Meinung Ihrer Freunde – natürlich steht es Ihnen völlig frei, Ihren Nachfolger selbst zu bestimmen.“
    Der Herrscher blieb nach außen hin ruhig, auch wenn er das dringende Bedürfnis verspürte, mit seiner Keule auf sie loszugehen. War es möglich, dass diese Leute bei seiner Krankheit, seiner körperlichen Ausdehnung, ihre Hände im Spiel hatten? Vielleicht hatten sie ihm etwas ins Essen getan, womöglich bei diesem Prayer Breakfast in Washington, um sein Ansehen mit der Behauptung einer männlichen Schwangerschaft zu untergraben?
    „Freunde sagen einander die Wahrheit, das ist mein Motto“, sprach der Herrscher und lachte in sich hinein. „Aber Sie erwarten sicher nicht, dass ich auf der Stelle antworte. Ich werde auf jeden Fall darüber nachdenken. Bitte überbringen Sie Ihrem Präsidenten meine besten Wünsche und meine Dankbarkeit. Und versichern Sie ihm, dass ich gesund und munter bin.“
    Botschafter Gemstone und der Sondergesandte gingen mit dem guten Gefühl, die Warnungen, Drohungen und Wünsche aufrichtig übermittelt zu haben, und sie begrüßten, dass der Herrscher sogar mit einem Schuss Humor reagiert hatte.
    Der Herrscher aber dachte anders. Für einen Moment vermisste er den Kalten Krieg, als er noch die eine Seite gegen die andere ausspielen konnte. Aber jetzt? Es gab nur noch eine Supermacht, und die war es gewöhnt, umworben zu werden, nicht andersherum. Oder hatte er die Intention des Gesandten falsch verstanden?
    In der Nacht ging er die gesamte Unterredung noch einmal durch, und dabei fielen ihm merkwürdige Zusammenhänge auf, vor allem, dass der Gesandte von Schwangerschaft und Alter gesprochen hatte, auch wenn das mit afrikanischen Sprichwörtern gewürzt gewesen war. Ein Zufall? Die Amerikaner, Machokali und der Herr der Krähen, machten sie gemeinsame Sache? Er brach in freudloses Gelächter aus. Wir sind hier in Aburĩria und nicht in Amerika. I will have the last laugh. Er wusste, dass es in Aburĩria nur einen einzigen Herrscher gab, und sein Name war: Herrscher von Aburĩria. Amerika mochte dabei geholfen haben, ihn an die Macht zu bringen, aber nun lebte man nicht mehr im zwanzigsten Jahrhundert; er war jetzt sein eigener Herr und würde nicht zulassen, dass Amerika ihm vorschrieb, wann er abdankte.
    Mit diesem klaren Gedanken wurde er ruhiger.
    Er würde befehlen, dass ihm sein vom Westen gesalbter Nachfolger Machokali den Herrn der Krähen brachte, unverzüglich und lebendig. Die Notwendigkeit, sich seine Zauberkräfte zu eigen zu machen, war nie größer.

D   R   I   T   T   E   R   T   E   I   L
1
    Niemand wusste, ob er nach Aburĩria zurückgekehrt war oder nicht, und nichts erregte die Gemüter so sehr, wie die Kontroverse über seine Flucht aus Amerika. War der Herr der Krähen entkommen oder einfach nur verschwunden? Sogar A.G. war ratlos. Wenn er in seiner Erzählung an die Stelle kam, wie sie in New York zum Flughafen gefahren waren und er nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte, wo der Herr der Krähen abgeblieben war, zögerte er kurz und durchlitt noch einmal die Trauer und den Schmerz von damals. Sein Kummer war ansteckend, und seine Zuhörer wurden still und schauten einander an, als fragten sie: Was können wir tun, um ihn aufzumuntern? Und sie spendierten ihm ein Bier oder auch zwei, „damit du deine Kehle anfeuchten kannst, Mann“, und bedrängten ihn: „Erzähl weiter.“ Wer ihn hörte, ging anschließend

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