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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Hexerei dahintersteckte, wenn jemand vor seiner Zeit abtrat. Suchte Tajirika öffentlich nach einem Zauberheiler, könnte man in ihm einen Abgesandten des Todes sehen und ihn für den Kummer verantwortlich machen, den andere, wie etwa Machokali, durchleiden mussten. Und plötzlich sah er vor seinem geistigen Auge, wie man ihm die Schuld an allen Sterbefällen in Aburĩria gab, und ihm schauderte vor der eigenen Dummheit. Hilflos starrte er in den Spiegel und merkte nicht, wie er rief: „Gouverneur, was soll ich tun? Was sollen wir tun, um Heilung für den Herrn der Krähen zu finden, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen?“
    „Was für eine Gefahr?“, fragte Vinjinia, die in diesem Moment ins Badezimmer kam. „Warum redest du mit dem Spiegel? Hast du schon vergessen, was geschehen ist?“

17
    Seit Tajirika von den Frauen und Vinjinia von Kaniũrũ und seinen Jugendbrigadisten entführt worden waren, hatten die beiden ihre Beziehung verbessert. Auch ihr gesellschaftliches Leben hatte sich verändert, und es verging nicht eine Woche ohne Einladung zu Cocktail- oder Dinnerpartys in irgendeinem Sieben-Sterne-Hotel. Diese Glitzerwelt und die Nähe zur Macht zogen Vinjinia an, und der politische Klatsch und Tratsch stießen sie nicht mehr ab wie früher. Die Kirchenbesuche waren das Einzige aus ihrem früheren Leben, an dem sie unvermindert festhielt. Sie besuchte noch immer dieselbe Kirche, All Saints, doch seit der Beförderung ihres Mannes bemerkte sie eine Veränderung in der Art, in der man ihr begegnete. Vorn, in der Nähe des Altars, war nun für sie und ihre Kinder eine Bank reserviert, und die Zahl der Männer und Frauen, die stehen blieben, um ein Wort mit ihr zu wechseln, die Hände zu schütteln oder sie einfach etwas zu fragen und einen Rat in religiösen Dingen einzuholen, war dramatisch gestiegen.
    Sie glaubte, es sei alles in Ordnung, und sie könnte sich zurücklehnen und das Leben genießen. Doch als sie sah, wie ihr Mann schon wieder mit einem Spiegel sprach, war sie alarmiert. Sie rief sich die Zeit ins Gedächtnis, als Tajirika von der Krankheit der Worte befallen war und wie alles angefangen hatte. Bekam er etwa wieder einen Anfall? Der erste hatte sich kurz nach seiner Ernennung zum Vorsitzenden von Marching to Heaven ereignet. Würde seinem Aufstieg zum Gouverneur ein weiterer Verlust der Worte folgen? Der einzige Unterschied bestand darin, dass er sich diesmal nicht das Gesicht zerkratzte. In der Regierungsverlautbarung, die Machokali bloßstellte, waren Tajirika und sein letztes Treffen mit Machokali im Mars Café erwähnt worden. Machte das ihrem Mann zu schaffen? Sie war unsicher und betete zu Gott, die Dämonen auszutreiben, die ihren Mann quälten. Wieder spionierte Vinjinia ihm heimlich im Haus hinterher. Keine neuen Überraschungen!, schwor sie sich.
    Eines Morgens hörte sie ihn deutlich den Herrn der Krähen erwähnen. Er war so in Gedanken vertieft, die ihn wohl auch zu diesem Ausruf gebracht hatten, dass er ihre Gegenwart nicht wahrnahm. Sie beschloss ihn zur Rede zu stellen: Welche Gefahr? Was ist mit dem Herrn der Krähen?
    Es war Sonntagmorgen. Zunächst erschreckte ihn Vinjinias Stimme. Er versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, konnte seine Beklemmung aber nicht verbergen. Er schien erleichtert, seine Frau zu sehen. Obwohl sie tagsüber auf unterschiedliche Weise beschäftigt waren und einander nicht so oft sahen, wie sie sich das wünschten, war Tajirika stets froh, vor seiner Frau prahlen zu können, wie sehr der Herrscher ihm vertraute oder sich seine Feinde wie Sikiokuu und Kaniũrũ darum bemühten, ihn milde zu stimmen. Jetzt bin ich am Drücker, verkündete er, und es gefiel ihm, wenn sie ihn ermahnte, sich nicht an der Macht zu berauschen wie einige Leute, die sie kannte. Das brachte beide zum Lachen, denn sie wussten, dass mit „einige Leute, die ich kenne“ Kaniũrũ gemeint war. Dennoch erzählte er ihr nicht alles, was sich im State House zutrug. Nichts über die Geldbäume, nichts über die Nacht, in der Machokali verschwand, und auch nichts über die Gefangennahme des Herrn der Krähen. „Es ist eine schwere Aufgabe, den Herrscher zu beraten, Vinjinia, und Staatsgeheimnisse lasten auf meiner Seele“, seufzte er. Aber er strahlte vor Vergnügen, sobald er Vinjinia sagen hörte: „Mach dir keine Gedanken. You can’t have your cake and eat it. Das gehört dazu.“
    Nun erinnerte ihn ihre Frage plötzlich daran, dass sie es war, die ihn dem Herrn der Krähen

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