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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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einen Augenblick. Eine beharrliche innere Stimme befahl ihm, nicht aufzugeben. Egal welchen Bettler er zuerst erwischte, er würde ihn zwingen, ihn zum Versteck des anderen zu bringen.
    Die beiden Bettler hatten sich inzwischen in einem Haus versteckt. Geduckt hinter einem Fenster, lauschten sie angestrengt auf das kleinste Geräusch von draußen. Sie hörten die Schritte des Polizisten deutlich, konnten ihn aber nicht sehen und waren unsicher, wo er sich gerade befand.
    Einer der Bettler spähte durch ein zweites Fenster. Jetzt konnte er den Polizisten deutlich erkennen: Mit gezogener Waffe ging er von Tür zu Tür und verhörte die Bewohner der Häuser. Vor einem Haus, über dessen Tür so etwas wie ein Bündel hing, blieb er stehen. Er zögerte und ging weiter. Dem Bettler kam eine Idee.
    „Hast du ein Stück Papier?“, flüsterte er seinem Kumpanen zu. Es waren die ersten Worte, die seit der Flucht vom Paradise zwischen ihnen fielen. Der Angesprochene antwortete nicht, sondern kramte in seiner Tasche und holte ein Blatt Papier heraus. „Nicht so ein kleines, ein größeres. Und schau mal nach, ob sich nicht hier auch ein paar Knochen, trockene Maiskolben, Lumpen und ein Stück Schnur finden.“
    Wenn der andere von den Forderungen überrascht war, dann zeigte er es nicht. Er tastete lediglich in der Dunkelheit herum, kam mit einem Stück Karton, einem Knochen, ein paar Fetzen Stoff und einem Stück Schnur zurück, die er dem anderen schweigend übergab, und nahm seinen Beobachtungsposten am Fenster wieder ein.
    Der zweite Bettler band den Knochen und die Stofffetzen zusammen. Dann zog er einen Filzstift aus seiner Tasche und schrieb in Großbuchstaben auf den Karton: ACHTUNG! DIESES ANWESEN GEHÖRT EINEM ZAUBERER, DESSEN MACHT FALKEN UND KRÄHEN VOM HIMMEL HOLT. SIE NÄHERN SICH DIESEM HAUS AUF EIGENE GEFAHR. – DER HERR DER KRÄHEN. Er gab sich Mühe, kein Geräusch zu machen, öffnete langsam die Haustür und entdeckte etwas noch Besseres: eine tote Eidechse und einen vertrockneten Frosch. Beide steckte er in das Bündel aus Knochen und Lumpen und hängte es als Omen direkt über die Tür, bevor er sich schnell zurückzog und zu dem anderen Bettler ans Fenster trat.
    Dicht aneinandergedrängt, konnten die beiden den Platz vor der Tür gerade so überblicken. Bald sahen sie den Polizisten näherkommen und hielten ängstlich den Atem an. Würde er die Tür eintreten? Als der Polizist das Bündel aus Knochen und Lumpen sah, trat er einen Schritt zurück. Dann nahm er allen Mut zusammen und ging wieder näher an das Bündel heran. Er wollte es bereits berühren, als er einen Froschschenkel und den Schwanz der Eidechse entdeckte. Starr vor Schreck las er, was auf dem Karton stand, fand seine Stimme wieder und stieß einen Schrei des Entsetzens aus: Oh, der Herr der Krähen! Auf der Stelle lief er davon, wobei er ständig vor sich hin murmelte: „Ich wusste, dass das keine Bettler waren. Das waren Teufel, Dschinns aus der Steppe, die der Herr der Krähen geschickt hat, um mich ins Verderben zu führen. Wehe mir! Er hat mich verhext. Wehe mir! Ich werde sterben! Ich bin ein Todgeweihter!“
    Die beiden Bettler konnten sich vor Lachen kaum halten. Eine Stimme schien einem Mann zu gehören, die andere einer Frau, doch fiel keinem der Unterschied auf. Der Bettler, der sich in dem Haus auszukennen schien, machte Licht. Das Lachen brach ab. Die beiden starrten einander an und konnten ihren Augen kaum trauen. Als sie dann etwas sagten, trafen sich ihre Fragen im Raum:
    „Nyawĩra?“
    „Kamĩtĩ?“

8
    Als Nyawĩra die Brilliant Girls High School besuchte, hatte es eine Zeit gegeben, in der sie mit ihren Namen geradezu kämpfte. Eine Zeit lang nannte sie sich Engenethi Nyawĩra Charles Matthew Mũgwanja Wangahũ und kürzte das oft mit E.N.C.M.M. Wangahũ ab. Engenethi gefiel ihr nicht und sie wurde Grace Mũgwanja. Und bei Grace Mũgwanja blieb es, zumindest in der Dorfgemeinschaft, und so behielt sie den Namen eine Weile. Ihr Vater mochte Grace lieber als Engenethi und ihre Mutter Roithi hatte Engenethi lieber als Grace. Mũgwanja konnten beide nicht ausstehen, sodass ihre Eltern sie entweder Grace oder Engenethi riefen. Sie selbst hatte mit diesen Kennzeichen ihrer Identität weiterhin ihre Schwierigkeiten, und als sie aufs College ging, entschied sie sich endgültig für Nyawĩra wa Wangahũ, auch wenn es noch immer einige gab, die es nicht über sich bringen konnten, sie anders als Grace Mũgwanja zu

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